Jungpaläolithische Kleinkunst
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Jungpaläolithische Kleinkunst ist ein archäologischer Sammelbegriff für Kunstwerke und künstlerisch gestaltete oder verzierte Artefakte des Jungpaläolithikums. Träger dieser Kunstwerke ist der anatomisch moderne Mensch, in Europa synonym auch als Cro-Magnon-Mensch bezeichnet.
Kleinkunst wird im archäologischen Zusammenhang als mobile Kunst bezeichnet (frz. art mobilier „bewegliche Kunst“). Dies ist ein Gegenbegriff zu den meist großformatigen Felsbildern in Höhlen und Abris, die zusammenfassend als Parietalkunst bezeichnet werden (frz. art pariétal „Wandkunst“, von lat. paries „Wand“).
Entstehung
In der Qafzeh-Höhle in Israel gab es bereits vor 92.000 Jahren eine nicht-zweckgerichtete Verwendung von Muschelschalen einer damals an der Küste verbreiteten Meermandel (Glycymeris insubrica)[1] sowie des mineralischen Farbstoffs Ocker.[2] Durchbohrte Schneckenhäuser (Nassarius gibbosulus) mit Datierungen von 82.000 Jahren gibt es aus der Grotte des Pigeons (Region Oujda, Marokko)[3] sowie – rund 40.000 Jahre alt – aus der Üçağızlı-Höhle in der Türkei.[4]
Die größte Ballung früher Kunstäußerungen des Homo sapiens stammt aus Fundstellen des Middle Stone Age in Südafrika. Die zugehörigen Werkzeugkulturen werden als Pre-Still Bay, Still Bay und Howieson’s Poort Industrie bezeichnet und auf den Zeitraum zwischen etwa 75.000 bis 50.000 Jahren datiert.[5] Bei den Kunstwerken handelt es sich ebenfalls meist um Schmuck aus durchbohrten Meeresschnecken oder Muscheln, hier jedoch in Verbindung mit geometrisch verzierten Objekten. Eine große Anzahl durchbohrter und mit Rötel eingefärbte Schneckenhäuser stammt aus der Blombos-Höhle (Südafrika). Diese sind bis zu 75.000 Jahre alt,[6] während älteste Ockerstücke in den unteren Höhlenschichten bis zu 100.000 Jahre alt sind.[7] Ockerfarben wurden im Middle Stone Age offenbar schon in größeren Mengen produziert, wie 58.000 Jahre alte Schichten im Abri Sibudu (Provinz KwaZulu-Natal, Südafrika) zeigen.[8] In der Blombos-Höhle sind außerdem verschiedene Rötelstücke (roter Ocker) mit geometrischen Ritzungen gefunden worden, die mindestens 75.000 Jahre alt sind.[9] Überzeugende Belege geometrisch ornamentierter Objekte wurden außerdem mit bis zu 60.000 Jahre alten gravierten Straußeneierschalen aus der Diepkloof-Höhle (Provinz Westkap, Südafrika) publiziert.[10] Die verzierten Straußeneier wurden wahrscheinlich als Wasserbehälter verwendet.
Die Entwicklung von einfachen ornamentierten Gegenständen in Afrika bis zu figürlichen Kleinkunstwerken des europäischen Aurignacien, die hier erst etwa vor 40.000 Jahren belegt sind, ist sehr wahrscheinlich ein kontinuierlicher Prozess im Sinne einer Tradition.[11][12] In Europa gibt es im Zeithorizont des Übergangs vom Mittelpaläolithikum zum Jungpaläolithikum eine Reihe ornamentierter Objekte, die sowohl Innovationen später Neandertaler sein können (Châtelperronien), als auch auf Interaktionen mit dem eingewanderten Homo sapiens zurückgeführt werden könnten.[13] Eingeritzte Ornamente spielen bei Kunstwerken des Cro-Magnon-Menschen eine große Rolle, wo sie die Elfenbein-Kleinkunst (vgl. Venus vom Hohlen Fels) dekorieren oder als Petroglyphen auf Felswände aufgebracht wurden. Zu den ältesten derartigen Funden gehört ein als Schmuckanhänger interpretierter, nur 3,7 Millimeter dicker, bearbeiteter Mammutknochen aus der Stajnia-Höhle in Polen, der durch mehr als 50 aneinander gereihte Einstiche, angeordnet zu einer Seilkurve wie bei einer herabhängenden Halskette, verziert wurde.
Die Verwendung von Schmuck und dekorativen Verzierungen wurde bis vor kurzem ausschließlich Homo sapiens zugeschrieben und als Teil „modernen Verhaltens“ gewertet.[2][14][15] Im Jahre 2010 wurden etwa 50.000 Jahre alte, durchbohrte und mit Ockerfarben bemalte Muschelschalen aus den spanischen Kalksteinhöhlen Cueva de los Aviones und Cueva Antón bekannt, die älter sind als die frühesten Belege des Cro-Magnon-Menschen und daher als gesichert von Neandertalern hergestellte Schmuckstücke gelten.[16]
Eine figürliche altpaläolithische Kleinkunst ist bislang nicht eindeutig belegt. Zwei sogenannte Proto-Figurinen aus altpaläolithischen Befundzusammenhängen, die Venus von Berekhat Ram (Israel) und die Venus von Tan-Tan (Marokko), werden kontrovers diskutiert. Während einige Wissenschaftler davon ausgehen, dass es sich um reine Naturspiele (Geofakte) handelt[17][18], nehmen andere wiederum an, dass es sich um echte Artefakte handelt. Der amerikanische Paläokunstexperte Alexander Marshack (Harvard-Universität) untersuchte die Figurien von Berekhat Ram mikroskopisch Untersuchung und beschreibt eine gewollte Formähnlichkeit durch menschliche Bearbeitung, die die naturgegebene Form verstärkt habe.[19] Manche Archäologen bestätigen die menschliche Bearbeitung, bestreiten aber die Interpretation als Skulptur.[20]
Genres jungpaläolithischer Kleinkunst
Die figürliche Kleinkunst in Europa beginnt mit dem Aurignacien. Zu den ältesten Werken gehören Elfenbein-Kleinkunstwerke der Schwäbischen Alb, wie zum Beispiel die Venus vom Hohlefels und der Löwenmensch vom Hohlenstein, eine 35.000 bis 41.000 Jahre alte[21] Skulptur aus Mammut-Elfenbein, die einen Menschen mit dem Kopf und den Gliedmaßen eines Höhlenlöwen darstellt.[22][23][24]
Insgesamt für das Jungpaläolithikum bilden Gravierungen, oft auf Lochstäben aus Rengeweih, Knochen, Stein oder Gagat, quantitativ die größte Gruppe der mobilen Kleinkunst; hier finden sich ausschließlich Darstellungen von Tieren, v. a. von Hirscharten, Steinböcken und Wildpferden. Eingravierte Zeichen und Symbole finden sich auf Geschossspitzen, Harpunen, den „baguettes demi-rondes“ oder auf kleineren Lochstäben.
Weiter zu erwähnen ist die Gruppe von plastisch ausgearbeiteten Speerschleuder-Hakenenden, die meist Wildpferdköpfe, Moschusochsen und auch stilisierte Fische darstellen. Schmuckanhänger und Amulette wurden aus Tierzähnen, kleinen Knochenteilen, Elfenbein, fossilen Schnecken, u. a. geschaffen. Die kleinen, stark abstrahierten „tanzenden“ Frauenstatuetten sind eine Besonderheit des Magdaléniens; für einen älteren Zeitabschnitt – das Gravettien – sind üppige, oft gesichtslose Frauendarstellungen („Venusfigurinen“) typisch, wie z. B. die Venus von Willendorf. Altsteinzeitliche Frauendarstellungen haben eine große geographische Verbreitung.[25] Von den Pyrenäen bis nach Sibirien sind zahlreiche dieser Skulpturen gefunden worden. Eine große Anzahl stammt aus Russland (Venusfigurinen von Kostenki, Venusfigurinen von Avdeevo, Venusfigurinen von Gagarino, Venusfigurinen von Saraisk) und Sibirien (Venusfigurinen von Malta, Venusfigurinen von Bouret). Daneben gibt es auch bekannte Fundstellen in Frankreich, Italien und Tschechien. Die Venus von Dolní Věstonice ist die älteste Figur aus Keramik. Von einigen Fundplätzen, z. B. Gönnersdorf, stammen umfangreiche Serien von flüchtigen Gravierungen auf Schieferplatten, auf denen ebenfalls vor allem Tiere und tanzende Frauen dargestellt sind.
Für die Schweiz ist nur die letzte Phase des Jungpaläolithikums – das Magdalénien (ca. 18.000 bis 12.000 v. Chr.) – sicher belegt, da eine Wiederbesiedlung der Mittelgebirgszonen erst im Spätglazial mit der Wiedererwärmung und dem daraus resultierenden Zerfall des würmeiszeitlichen Eises möglich war.[26] Aus den ca. 30 bekannten Fundstellen in der Schweiz sind lediglich Fundstücke aus dem jüngeren Magdalénien bekannt und gehören innerhalb der nach André Leroi-Gourhan umrissenen Stilrichtungen zum Kunststil IV, der Ritzzeichnungen auf Schiefer, Knochen und Geweih, figürliche Kleinplastik sowie Amulett- und Anhängerformen umfasst.[27][28] Die Fundstellen verteilen sich unregelmäßig entlang des südlichen Juraabhanges und des südlichen Gebietes der Schwäbischen Alb.
Wichtige Fundstellen in Europa
Frankreich
- Laugerie-Haute, Aquitanien
- La Madeleine, Aquitanien
- Brassempouy (die Venus von Brassempouy aus der «Grotte du Pape»)
Schweiz
- Die Höhle Kesslerloch im Kanton Schaffhausen
- Die Rislisberghöhle bei Oensingen
- Der Abri Schweizersbild im Kanton Schaffhausen
- Freilandstationen wie das Moosbühl im Kanton Bern
- Champréveyres und Monruz im Kanton Neuenburg
Deutschland
- Vogelherdhöhle bei Niederstotzingen im Lonetal auf der Schwäbischen Alb, Baden-Württemberg
- Hohlenstein-Stadel bei Asselfingen im Lonetal (Schwäbische Alb), Baden-Württemberg
- Hohler Fels bei Schelklingen im Achtal (Schwäbische Alb), Baden-Württemberg
- Geißenklösterle bei Blaubeuren im Achtal (Schwäbische Alb), Baden-Württemberg
- Petersfels bei Engen im Brudertal (Hegau), Baden-Württemberg
- Klausenhöhle bei Essing im Altmühltal (Fränkische Alb), Bayern
- Gönnersdorf bei Neuwied, Rheinland-Pfalz
- Andernach am Rhein, Rheinland-Pfalz
Ausstellung
- 2013: Ice Age Art. Arrival of the Modern Mind, British Museum; London, Katalog.[29]
Galerie von jungpaläolithischer Kleinkunst
Tierfigur aus der Vogelherdhöhle, die als Schneeleopard gedeutet wird und im Museum der Universität Tübingen präsentiert wird
Menschenähnliche Figur aus Mammutelfenbein, 40.000 Jahre alt (aus dem Aurignacien), ausgestellt in Tübingen
Im Abraum der großen Grabung von 1931 erst 2006 entdeckt: ein Höhlenlöwe, ausgestellt im Archäopark Vogelherd
Der Adorant vom Geißenklösterle, 40.000 Jahre alt, ausgestellt im Landesmuseum Württemberg
Der aufrecht stehende Höhlenbär vom Geißenklösterle, ebenfalls präsentiert im Landesmuseum Württemberg
Literatur
- Nicholas Conard, Ernst Seidl: Das Mammut vom Vogelherd. Tübinger Funde der ältesten erhaltenen Kunstwerke. MUT, Tübingen 2008, ISBN 978-3-9812736-0-1.
- Sabine Gaudzinski-Windheuser, Olaf Jöris: Contextualising the Female Image – Symbols for Common Ideas and Communal Identity in Upper Palaeolithic Societies. Kapitel 16 in: Fiona Coward, Robert Hosfield, Matt Pope und Francis Wenban-Smit (Hrsg.): Settlement, Society, and Cognition in Human Evolution. Landscapes in Mind. Cambridge University Press, 2015, S. 288–314, ISBN 978-113920869-7.
- Alexandra Güth: Using 3D Scanning in the investigation of Upper Palaeolithic engravings: first results of a pilot study. In: Journal of Archaeological Science. Band 39, Nr. 10, 2012, S. 3105–3114, doi:10.1016/j.jas.2012.04.029.
- Claus-Stephan Holdermann, Hansjürgen Müller-Beck, Ulrich Simon: Eiszeitkunst im süddeutsch-schweizerischen Jura. Theiss, Stuttgart 2001, ISBN 3-8062-1674-6.
- André Leroi-Gourhan: Préhistoire de l’art occidental. Editions d'art Lucien Mazenod, Paris 1965.
- Urs Leuzinger (Hrsg.): Die ersten Menschen im Alpenraum von 50.000 bis 5000 vor Christus. Ausstellungskatalog. Walliser Kantonsmuseen, Sitten (Wallis) 2002, ISBN 2-88426-049-8.
- Jennifer M. Miller und Yiming V. Wang: Ostrich eggshell beads reveal 50,000-year-old social network in Africa. In: Nature. Online-Veröffentlichung vom 20. Dezember 2021, doi:10.1038/s41586-021-04227-2.
- Leif Steguweit (Hrsg.): Menschen der Eiszeit: Jäger – Handwerker – Künstler. Praehistorika, Fürth 2008, ISBN 978-3-937852-01-0, (PDF-Download.)
Weblinks
- Kunst der Eiszeit (Landschaftsmuseum Obermain Kulmbach)
- Älteste Kleinkunst der Menschheit
- Deutschlandfunk Köln (DLF) mit Nicolas Conard vom Institut für Ur- und Frühgeschichte – Abteilung Ältere Urgeschichte und Quartärökologie vom 21. Juni 2007
Belege
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- ↑ W. Noble, I. Davidson: Human Evolution, Language and Mind: A Psychological and Archaeological Inquiry. Cambridge University Press, Cambridge 1996.
- ↑ Alexander Marshack: The Berekhat Ram figurine: a late Acheulian carving from the Middle East. Antiquity, 71(272), 1997, S. 327. Online als PDF Archivierte Kopie (Memento des Originals vom 26. Juli 2008 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.
- ↑ Francesco d'Errico, April Nowell: A new look at the Berekhat Ram figurine: implications for the origins of symbolism. In: Cambridge Archaeological Journal. Band 10, 2000, S. 148.
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- ↑ Kurt Wehrberger: L’Homme-lion de la grotte du Hohlenstein-Stadel/Der Löwenmensch vom Hohlenstein-Stadel. Les chemins de l’art aurignacien en Europe/Das Aurignacien und die Anfänge der Kunst in Europa. Colloque international/Internationale Fachtagung Aurignac, 16.–18. 9. 2005, Éditions Musée-forum Aurignac, cahier 4, 2007, S. 331–344.
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- ↑ Eiszeit. In: FAZ. 8. Februar 2013, S. 31.