Die menschliche Sprache - Wie, wann, und warum


Eine lange Leitung zu haben, gilt als wenig schmeichelhaft. Doch genau sie ermöglicht ein solches (Vor) Urteil überhaupt erst - vermutet Derek Bickerton. Für den Sprachforscher sind größere Gehirne mit längeren Informationsübertragungswegen in den Nervenbahnen der entscheidende Unterschied zwischen uns Menschen und allen anderen Lebewesen auf der Erde - und womöglich auch der Schlüssel zum Rätsel vom Ursprung unserer Sprachfähigkeit.

Bickerton, Professor für Linguistik an der Universität Hawaii in Honolulu, ist es maßgeblich zu verdanken, dass dieses Thema wieder ein seriöses, wenngleich noch immer spekulatives und gerade deshalb auch spektakuläres Forschungsgebiet ist. Zu einer einer großen interdisziplinären Konferenz zu Ursprung und Evolution der Sprache, die er mitorganisierte, waren Linguisten, Anthropologen, Archäologen, Verhaltensforscher, Neurobiologen, Computerwissenschaftler und Philosophen aus aller Welt eingeladen.

Nichts illustriert besser die vielen Fortschritte und seriösen Modelle, die das Thema in letzter Zeit wieder salonfähig gemacht haben. Dabei hatte die erste sprachwissenschaftliche Gesellschaft, die Sociéte de Linguistique de Paris, im Jahr 1866 in ihrer Satzung Vorträge zum Sprachursprung auf ihren Konferenzen strikt verboten: Aufgrund immer wilderer Spekulationen sollte das Thema wissenschaftlich trockengelegt werden. Und tatsächlich spielte es seither kaum mehr eine Rolle in der Linguistik. Dies hat sich inzwischen geändert - und der Veranstaltungsort der interdisziplinären Konferenz im Jahr 2000 war bezeichnenderweise Paris.

Bickerton, groß, hager, in ausgewaschenen Jeans und legerem Hemd, könnte durchaus in einem Wildwestfilm mitspielen. Sein Englisch klingt knurrend, und wenn er sich angegriffen fühlt, kontert er wie aus der Pistole geschossen - lässig und aus der Hüfte heraus. Angegriffen fühlt er sich häufig, denn wo originelle Ideen gedeihen, sind die Kritiker nicht weit, und Wissenschaft lebt von Kritik und Gegenkritik. Bickerton genießt es sichtlich, wenn er für Zündstoff sorgt - und damals in Paris bekam er mehr als einmal die Gelegenheit zum Schlagabtausch.

Seine wissenschaftliche Meriten hatte er sich freilich schon vorher erworben: durch das Studium der Pidgin- und Kreolensprachen. Pidgin ist die Bezeichnung für ein in Grammatik und Wortschatz extrem reduziertes Kauderwelsch, das sich vor allem als situationsspezifisches Verständigungsmittel in Kreisen verschiedensprachiger Händler, bei Lohnarbeitern in Kolonien und Sklaven an vielen Orten der Welt herausgebildet hat. Kinder, die in diesem sprachlichen Tohuwabohu aufwachsen, entwickeln gemeinsam Sprachformen aus dem Vokabular der dominierenden Sprache (meist Englisch, Französisch oder Portugiesisch), angereichert mit Pidgin-Begriffen aus den anderen Sprachen, und bisweilen einzigartigen grammatischen Formen.

Trotzdem gehorcht die kreolische Sprachstruktur Gesetzmäßigkeiten, wie sie Noam Chomsky, der am Massachusetts Institute of Technology lehrende «Papst» der modernen Linguistik, für alle menschlichen Sprachen postuliert. Er geht nämlich davon aus, dass jeder Mensch eine Art angeborene Universalgrammatik in seinem Kopf hat, von der die Einzelsprachen nur Varianten sind. Bickertons Erkenntnisse über die Kreolensprachen haben diese Hypothese gestützt. Er prägte das Schlagwort vom Bioprogramm der Sprache, Chomskys Kollege Steven Pinker spricht sogar vom «Sprachinstinkt». Allerdings haben Chomsky und mit ihm viele Linguisten die neuronalen Grundlagen der menschlichen Sprachfähigkeit und ihre Evolutionsgeschichte lange Zeit völlig ausgeblendet. Dabei zeugen tausende von unterschiedlichen Aphasien - Sprachstörungen nach Schlaganfällen, Hirnverletztungen und -tumoren - davon, dass das Sprachvermögen mehr oder weniger spezifisch beeinträchtigt oder ganz ausfallen kann. Und manche erstaunlichen Leistungen von Tieren werfen die Frage auf, ob die menschliche Sprachfähigkeit wirklich so einzigartig in der Natur ist. So haben Menschenaffen gelernt, sich mittels Gebärdesprachen oder Computersymbolen mit Menschen und auch untereinander zu verständigen.

In seinem Buch «Lingua ex Machina» hat Derek Bickerton zusammen mit dem Hirnforscher William Calvin von der University of Washington in Seattle versucht, genau diese Lücken im Paradigma der modernen Linguistik zu schließen - das heißt, Noam Chomsky und Charles Darwin miteinander zu versöhnen. «Einige Jahrzehnte lang wurde das Studium unserer Art und seiner einzigartigen Fähigkeiten verzögert und unterbrochen durch einen Streit, zu dem es nicht hätte kommen müssen», ärgert sich Bickerton über den Argwohn und die Reserviertheit, mit denen Biologen und Sprachwissenschaftler sich lange gegenüberstanden. «Die Indizien dafür, dass sich alle Arten, auch der Mensch, durch die natürliche Selektion etwickelt haben, die auf genetischen Variationen aufbaut, ist einfach überwältigend - genau wie die Indizien dafür, dass Sprache eine biologisch determinierte, artspezifische, erbliche Fähigkeit ist.»

Bickerton unterscheidet zwischen Protosprache und echten Sprachen. Erstere sind weithehend frei von spezifischen Verknüpfungen sprachlicher Einheiten zu Sätzen, das heißt von syntaktischen Eigenschaften wie Subjekt-Objekt-Verb-Ordnung, Pronomen, Artikeln, Adjektiven und Adverben, Deklination und Konjugation - kurz alles, was für manche unerquickliche Schulstunde sorgt, was aber jeder in seiner Muttersprache exzellent und mühelos beherrscht. Diese komplexen Sprachen sollen aus primitiven Vorstufen ohne Syntax entstanden sein, meint Bickerton. Ein Nachklingen solcher Protosprachen sieht er im Brabbeln von Kleinkindern, der Kommunikationsweise sprachlich unterrichteter Menschenaffen, den Sprachstörungen bei Aphasien und den reduzierten Formen der Pidgin-Sprachen.

Doch wie sind aus den primitiven Protosprachen die syntaktisch ausgefeilten Sprachen entstanden? Wie kam die Universalgrammatik ins menschliche Gehirn? «Am Anfang war das Wort», hat der Linguist John Simon einmal scherzhaft dieses große Problem formuliert, «aber als das zweite Wort hinzukam, gab es Schwierigkeiten. Denn mit ihm kam die Syntax, die so vielen Leuten ein Bein stellt.» Um die zauberhafte Lösung eines Deus ex machina zu vermeiden, vermutete Bickerton früher, dass die Lingua ex machina - die Sprachfähigkeirt des Gehirns - einer einzigen zufälligen genetischen Mutation zu verdanken ist, die sich aufgrund ihres Vorteils rasch durchgesetzt hat. Biologisch ist dies jedoch äußerst unplausibel. Bickerton hat sich hier inzwischen seinen Kritikern gebeugt - und eine neue Hypothese aufgestellt. Hier kommt die lange Leitung in der Großhirnrinde ins Spiel.

«Sprache erfordert, dass das menschliche Gehirn Leistungen vollbringt, die die Fähigkeiten der bisherigen Primatenhirne weit übertreffen. Im Lauf der Evolution hat sich das Gehirn so entwickelt, dass es kurze, rasch verschwindende und undeutliche Signale verarbeiten kann. Die komplex gegliederte Sprache dagegen erfordert zusammenhängende, klare Signale, die relativ lange zur Verfügung stehen müssen», erklärt Bickerton. Er glaubt, überspitzt gesagt, dass dieser gedankliche Schwebezustand durch die längere Informatiosverarbeitung in der größeren Hirnmasse entstand. Und dadurch konnten die Gedanken zum Gegenstand syntaktischer Verarbeitungsprozesse werden - ähnlich wie man Fotos besser im Detail betrachen kann als eine rasche unzusammenhängende Bilderfolge.

In diesem Zeitgewinn besteht für Bickerton auch der entscheidende Unterschied zwischen Mensch und Tier. «Tiere dürften sich der Flut ihrer Erfahrungen bewußt sein. Doch sie können diesen Erfahrungsstrom nicht bearbeiten oder sich zurücklehnen und denken 'Das ist meine Erfahrung!' - einfach deshalb, weil der Prozeßviel zu schnell abläuft. Sie können keine Teile davon einfrieren, hin- und herwenden, anschauen und in neue Ordnungen bringen, so wie wir», erläutert Bickerton seine spekulativen Überlegungen. «Das ist eine ganz simple Theorie des Bewußtseins. Tiere haben möglicherweise keinen Zugang zu ihrem Bewußtsein, weil für sie alles viel zu schnell geht - ähnlich wie bestimmte Bewegungen, die unser Auge nicht zu sehen vermag, weil sie zu rasch ablaufen. Bewußte Zustände könnten einfach dadurch entstehen, dass das Gehirn neuronale Reize eine gewisse Zeitspanne lang relativ unverändert aufrechterhält.»

Angenommen, Bickertons Hypothese trifft zu: Dann muß freilich noch immer erklärt werden, wie die Evolution den Sprung über die Schwelle der Protosprache geschafft hat und wie die «symbolische Spezies» entstand - so nämlich hat der Evolutions- und Hirnforscher Terrence Deacon von der amerikanischen Harvard University den Menschen charakterisiert.

Dieser Intelligenzsprung wurde vor allem durch soziale Faktoren verursacht, sind viele Wissenschaftler überzeugt: Je größer und komplexer eine Gruppe aus Individuen ist, die eng miteinander kooperieren, aber sich auch ständig gegenseitig zu übervorteilen versuchen, desto mehr Brainpower ist für Gedächtnis, Handlungsplanung und Bündnispolitik nötig. Robin Dunbar von der University of Liverpool hat sogar eine direkte Korrelation von Hirvolumen und Gruppengröße nachgewiesen und glaubt, dass die Entstehung der Sprache damit zusammenhängt: zunächst als eine verbale Form der bei Affen weitverbreiteten sozialen Fellpflege - eine Kontaktpflege im wahrsten Sinn des Wortes -, dann vor allem für Tratsch und Klatsch, was wiederum ein wichtiges Mittel im zwischenmenschlichen Ränkespiel wurde. Wer nämlich einen höheren Rang in einer Gruppe hat, kann sich meistens auch erfolgreicher fortpflanzen und damit seine Gene vermehrt in der nächsten Spielrunde der Evolution plazieren.

Bickerton ist auch davon überzeugt, dass das Sprachvermögen auf komplexen sozialen Beziehungen einschließlich altuistischer Zusammenarbeit basiert - sprachliche Übereinkünfte beruhen schließlich darauf, dass die meisten sich fast immer an die herrschenden Regeln halten und sprachlich kooperieren, also nicht lügen oder absichtlich Unsinn erzählen.

Doch dies kann nicht die ganze Geschichte gewesen sein, lautet Bickertos Einwand. Er hält es für unplausibel, dass ein kognitives Wettrüsten um soziale Stellungen aus grunzenden Affenmenschen sprachbegabte symbolische Spezies macht, obwohl diese ständige Konkurrenz die Ausbildung komplexer sprachlicher Srukturen später bestimmt extrem forciert hat. Freilich ist schon das Sozialleben von Menscheaffern erstaunlich komplex - Primatenforscher wie Frans de Waal von der Emory University in Atlanta, Georgia, glauben sogar, in den sozialen Wechselwirkungen Parallelen zu syntaktischen Strukturen zu erkennen, die Chomsky beschrieben hat -, doch eine reichhaltige Lautsprache haben sie nicht entwickelt. Die größere soziale Komplexität bei Menschen halten sie daher nicht für die Ursache, sondern eher für die Folge des Sprachvermögens. Und für Klatsch und Tratsch waren die Protosprachen einfach nicht reichhaltig und aussagekräftig genug.

«Ökologische Bedingungen machten den hohen Selektionswert einer auch noch so rudimantären Sprachfähigkeit aus, und nicht primär die sozialen Bedingungen, wo Täuschung und Manipulation die Regel waren», ist Bickerton überzeugt. Im Gegensatz zum tropischen Regenwald mit seinem üppigen und gleichmäßig verteilten Nahrungsangebot, in dem die Menschenaffen lebten, mußten unsere Ahnen ihr Dasein unter den harschen Bedingugen in der Savanne fristen wo überall gefährliche Tiere lauerten und es ihnen schwerfiel, genug Nahrung zu finden. «Worte spielten wohl vor allem dort eine Rolle, wo sie einem selbst kaum Nachteile brachten, das heißt, wo Kooperation über Konkurrenz dominierte, und wo rasch festgestellt werden konnte, ob die Worte der Wahrheit entsprachen oder nicht» nimmt Bickerton an. Und das war hauptsächlich dann der Fall, wenn es darum ging, die Nahrungsshe zu koordinieren oder sich gegenseitig vor Raubtieren zu warnen.

Hier kommt ein weiterer entscheidender Nutzen der Sprachfähigkeit ins Spiel, den Stevan Harnad von der University of Southampton den «Vorteil des symbolischen Diebstahls über die ehrliche Plackerei» genannt hat: die Kategorisierung. «Ehrliche Plackerei ist das gute alte Lernen mit Versuch und Irrtum. Es basiert auf den Rückmeldungen, die man aus den Folgen seines eigenen Verhaltens erhält. Ein Lebewesen, das sich beispielsweise von Pilzen ernährt, erfährt am eigenen Leib den Unterschied zwischen guten Pilzen und solchen, von denen einem schlecht wird. Anhand äußerer Merkmale kann es dann lernen, die beiden Pilz-Kategorien auseinanderzuhalten.»

Dieser mühselige und nicht selten gefährliche Wissenserwerb läßt sich durch verbale Hinweise wesentlich beschleunigen. «Wenn die Lebewesen in der Lage sind, einander die Eigenschaften der guten und schlechten Pilze zu beschreiben, wahrscheinlich mit dem Zeigen einiger treffender Beispiele, können sie sich eine Menge Schwierigeiten ersparen», sagt Harnad. Ähnlich nützlich sind Warnungen wie «heiß!» und «tief!» für Feuer und Flüsse. Wie vorteilhaft sich diese primitive Kommunikation auswirkt, haben Harnad und seine Mitarbeiter in Computermodellen demonstriert.

Auch experimentell ist der Erfolg von Kategorisierungen gut bestätigt: Lange war rätselhaft, wie es manche Menschen mit großer Erfahrung schaffen, frisch geschlüpfte weibliche Küken von männlichen zu unterscheiden. Diese Fähigkeit hat große ökonomische Bedeutung, denn normalerweise sind nur Legehennen erwünscht, und die männlichen Küken sollen aus Kostengründen nicht unnötig durchgefüttert werden. Dieses «Chicken-Sexing» ist aber sehr schwierig und erfordert lange Übung, zumal die Experten selbst nicht so genau sagen können, worin sich die Geschlechter äußerlich unterscheiden. Mit vielen Fotos gelang es Wissenschaftlern jedoch, einige Merkmale zu extrahieren. Wurden Sexing-Neulinge darauf hingewiesen, konnten sie innerhalb kurzer Zeit bis zu 90 Prozent des Niveaus der «Großmeister» erreichen, was sonst nur mit einem monatelangen Versuch-und-Irrtum-Lernen glückt.

«Dieser symbolische Diebstahl, das Lernen vom Hörensagen, ist ein Verbrechen ohne Opfer - jedenfalls in Situationen, wo man vom Nachteil anderer selbst keinen Vorteil oder sogar eigene Nachteile hat», sagt Harnad. «Es ersetzt nicht das Prinzip von Versuch und Irrtum, aber es ergänzt es wesentlich.» Sein Fazit: Der Ursprung der Sprache hängt zusammen mit der Entstehung der Fähigkeit, Kategorien mit sprachlichen Symbolen zu bezeichnen und mit diesen Symbolen Aussagen über die Welt zu machen, die wahr oder falsch sein können.

Sicherlich waren es keine Küken und vielleicht auch nicht Pilze, über die sich unsere fernen Ahnen einst verständigten, doch wahrscheinlich die Fundorte von nahrhaften Wurzeln, Nüssen und Früchten oder Aas. Hinzu kamen Warnungen vor Raubkatzen, wenn beispielsweise jemand Spuren im Gras entdeckte. Die Protosprache hat sich vor 1,5 bis 0,5 Millionen Jahre verbreitet, als Homo erectus und seine Verwandten durch Afrika und später durch Asien und Europa streiften, schätzt Bickerton.

Die eigentliche Sprachfähigkeit entwickelte sich erst später, vor vielleicht 200.000 bis 50.000 Jahren, glaubt er. Eine wichtige Triebkraft dafür war der reziproke Atruismus nach dem Motto: "Kratzt du mir den Rücken, so kratze ich ihn dir ebenfalls." Diese Kooperation war für den Jagderfolg unerläßlich. Hätten beispielsweise die Jäger, die das Wild erlegten, die Beute nicht mit ihren Treibern und ihren Familien geteilt, hätte niemand mehr als Treiber gearbeitet. Doch gegenseitiger Altruismus funktioniert nur, wenn Trittbrettfahrer keinen Erfolg haben - sonst wird der Altruist gnadenlos ausgenutzt und hat nicht nur die Arbeit und das Risiko, sondern auch das Nachsehen. Deshalb ist es notwendig, sich gut zu merken, wer wieviel investiert und abgibt.

Diese soziale Intelligenz scheint eine wesentliche Ursache für die Vergrößerung des Hirnvolumens der Frühmenschen in den letzten Jahrmillionen gewesen zu sein - und hat letztlich wohl auch zur Sprachfähigkeit geführt. Bickerton sieht sogar Parallelen zwischen den Voraussetzungen für das soziale Kalkül und den grundlegenden syntaktischen Strukturen für Subjekt, Objekt und Verb. Futterneid und Feilschen um einen Brocken Aas, Tratsch und Klatsch am Lagerfeuer - das also könnten die Wurzeln der Sprachgewalt von Homer, Shakespeare und Nietzsche gewesen sein.



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