Charles Darwin und die Abstammung des Menschen
Für seine lange Reise an Bord der »Beagle«, die ihn in fünf Jahren um die Welt führen sollte, packte sich der junge Charles Darwin auch die eben erschienenen »Prinzipien der Geologie von Charles Lyell ein. In ihnen fand Darwin die Argumente für ein hohes Alter der Erde, die für jede ernsthafte Diskussion einer natürlichen Entwicklung von einfachen zu komplizierten Lebewesen nötig waren. Wieder in England, bemühte er sich zwei Jahre lang, den Mechanismus für die Weiterentwicklung der Arten zu finden. Die entscheidende Idee kam ihm am 3. Oktober 1838, als er das Buch »Versuch über das Bevölkerungsgesetz« des britischen Geistlichen und Mathematikers Thomas Robert Malthus (1766 bis 1834) las.
Malthus war davon überzeugt, dass jede Bevölkerung sich ins Uferlose vermehrt, wenn sie nicht durch Beschränkungen wie etwa Nahrungsmangel daran gehindert wird. Darwin übernahm von Malthus den Begriff vom »Kampf ums Dasein« und schrieb: »Unter solchen Umständen würden vorteilhafte Variationen eher erhalten bleiben und unvorteilhafte zerstört werden. Das Ergebnis wäre die Entstehung neuer Arten.« - Darwin war bewußt, was er da entdeckt hatte. Zum ersten Mal konnte die von Aristoteles entworfene Regel der causa finalis -der Zweck (z. B. eines Lebewesens) als Ursache (z. B. seines Aussehens) -durch eine neue causa abgelöst werden: Das überleben der am besten angepaßten Organismen als Ursache -und Mechanismus -für die Entwicklung der Arten. Die revolutionäre Einsicht beruht auf vier grundsätzlichen Annahmen:
- Die Welt befindet sich nicht in einem statischen Zustand, sondern verändert und entwickelt sich fortwährend weiter.
- Diese Weiterentwicklung -die Evolution- geht kontinuierlich, Schritt für Schritt vor sich (nach Charles Lyells Motto: »Die Natur macht keine Sprünge«).
- Alle Lebewesen (einschließlich des Menschen) gehen auf einen gemeinsamen Vorfahren zurück.
- Die treibende Kraft hinter der Evolution des Lebens ist die natürliche Auslese innerhalb von Populationen (Lebewesengruppen), die in zwei Schritten abläuft. Der erste Schritt ist die Erzeugung von Nachwuchs mit vielen unterschiedlichen Eigenschaften (ein Prozeß, der erst heute durch die Entdeckungen der modernen Genetik verstanden wird). Der zweite Schritt ist die Auswahl der am besten angepaßten Wesen im Kampf ums Dasein.
Obwohl Darwin über genug verläßliche Beobachtungen verfügte, um damit seine Unkenntnis über die Ursache der genetischen Vielfalt zu überspielen, zögerte er zwanzig Jahre lang, seine Evolutionstheorie niederzuschreiben. Der gründliche Gelehrte wollte sich selbst erst einmal über die philosophischen Auswirkungen seiner Theorie auf das Selbstverständnis des Menschen klarwerden. Denn deren konsequente Anwendung bedeutete, dass nicht nur alle Kreaturen, sondern auch der Mensch und sogar »die Zitadelle selbst« (wie Darwin den menschlichen Geist nannte) auf einen materiellen Ursprung zurückgehen. Ein solcher Materialismus galt in jener noch gottesfürchtigen Zeit Mitte des 19. Jahrhunderts als Ketzerei.
Nach zwei Jahrzehnten des Schweigens erhielt Darwin dann im Juni 1858 einen Brief aus dem Fernen Osten, den der englische Naturforscher Alfred Russel Wallace (1823 bis 1913) abgesandt hatte. Darin schilderte Wallace auf zwölf Seiten seine -auf jahrelange Beobachtungen gestützte Gedanken über die Entstehung der Arten, die Darwins noch nicht veröffentlichter Evolutionstheorie verblüffend glichen.
Beide Biologen einigten sich, ihre Ideen vor der Londoner Linne-Gesellschaft vorzutragen, was ohne Aufsehen geschah. Darwin machte sich nun allerdings energisch an sein lange verzögertes Buch, das dann am 24. November 1859 mit einer Auflage von 1250 Exemplaren unter dem Titel »Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl« in London erschien -und noch am selben Tag vergriffen war. Zwar hatte Darwin jeden Hinweis auf eine gemeinsame Herkunft von Tier und Mensch bis auf einen bedeutungsschwangeren Satz vermieden. Aber dennoch brach der Kampf zwischen den Anhängern einer göttlichen Schöpfung und den Evolutionisten mit aller Schärfe aus. Den damaligen Widerstand gegen die neue Einsicht beschreibt die Reaktion der Frau des Bischofs von Worcester (England) auf die Nachricht, dass der Mensch vom Affen abstamme: »Du meine Güte! Wir sollen vom Affen abstammen?! Wir wollen hoffen, dass das nicht stimmt -aber wenn es wahr ist, dann wollen wir beten, dass es nicht bekannt wird.«
Charles Darwin wartete abermals ein Jahrzehnt, bis er dann im Jahr 1871 seine längst den Notizbüchern anvertrauten Gedanken über die Herkunft von Homo sapiens in dem Buch »Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl« vorstellte, in dem er den Menschen als Abkömmling der Primaten beschreibt. Dabei ging er auch auf gewisse Ähnlichkeiten zwischen Affen und Menschen bei Instinkt, Gefühl und Sozialverhalten ein -eine Thematik, die er ein Jahr später in dem Werk »über den Ausdruck der Gemütsbewegungen bei Menschen und Tieren« detaillierter aufgriff.
Während Darwins und Wallaces Evolutionstheorie sich bei den meisten Naturwissenschaftlern rasch durchsetzte, hielten die erregten Debatten in der Öffentlichkeit und in den Kirchen (zum Teil bis heute) an. Darwin wurde in zeitgenössischen Karikaturen geschmäht und als Affe dargestellt. Bei vielen Menschen, die Darwins Theorie grundsätzlich akzeptierten, schlich sich die -irrige -Vorstellung ein, die Evolution sei eine »Höherentwicklung« hin auf das »Endprodukt« Mensch gewesen. Sag niemals »höher« oder »niedriger«, hatte sich der große Biologe einmal selbst erinnert, denn eine Amöbe ist an ihre Umwelt so gut angepaßt wie der Mensch an die seine.