Das Kind von Taung
FUND | FUNDORT | ALTER | ENTDECKER | DATUM |
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juveniles Cranium | Taung, Südafrika | 2.3 Millionen Jahre | M. de Bruyn | Oktober 1924 |
VERÖFFENTLICHUNG | ||||
Dart, R. 1925. Australopithecus africanus. The man-ape of South Africa. Nature 115: 195-199.
DOI: 10.1038/115195a0. |
In der Umgebung der Kleinstadt Taung im damaligen südafrikanischen Protektorat Betschuanaland wurde früher Kalkstein abgebaut. Der Steinbrucharbeiter M. de Bruyn, der die Arbeiten beaufsichtigte, sammelte von Zeit zu Zeit die zum Vorschein kommenden Fossilien ein, denn er wusste, dass der Anatomieprofessor Raymond Dart von der Witwatersrand University in Johannesburg großes Interesse daran hatte.
Die Anatomie des Fossils bestätigte Darts Anfangsverdacht, dass es sich dabei nicht um einen Affen handeln konnte. Nachdem Dart in mühsamer, mehr als zweimonatiger Arbeit den Schädel von der Kalkmatrix befreit hatte, hielt er den Schädel eines kindlichen Primaten in Händen, bei dem es sich nur um einen frühen Homininen handeln konnte. Am 7. Februar 1925 veröffentlichte er seine Arbeit in der Wissenschaftszeitschrift Nature, in der er sich auf Darwins Voraussage berief, wonach man in Afrika einmal Fossilen aus den frühesten Stadien der menschlichen Evolution finden würde.
Er lagerte seine Funde ein und schickte hin und wieder eine oder zwei Kisten an Dart. Eine Sendung mit Fossilien aus dem Herbst 1924 enthielt einen Schädelinnenabdruck, der anders aussah als die üblichen Schädel von Pavianen aus der gleichen Gegend. Das Gesicht und der zugehörige Unterkiefer waren zum größten Teil erhalten; vor allem passte der Innenabdruck genau zum vorderen Teil des Schädels.
Dart schuf die erste neue Gattung der Paläoanthropologie, die er Australopithecus nannte. De Bruyns Schädelfund von Taung wählte er als Holotypus, anhand dessen Anatomie er seine neue Spezies Australopithecus africanus wissenschaftlich beschrieb. Obwohl diese Bezeichnung ein Mischwort aus dem lateinischen »australo« mit dem griechischen »pithecus« ist, blieb der Name für den "südlichen Affen aus Afrika" bis heute bestehen.
A. africanus zeigt eine ganze Reihe menschenähnlicher Merkmale, darunter eine gewölbte, hohe Stirn ohne Überaugenwulst, zarte Wangenknochen, einen wenig robusten Unterkiefer und ein in Seitenansicht relativ flaches Profil. Dart schätzte das Volumen des Kinderschädels auf 405 cm³ und errechnete daraus ein Volumen von 440 cm³ für einen Erwachsenen. Die Zähne sehen ebenfalls recht menschenähnlich aus, denn die Eckzähne ragen nicht sehr weit über die hintere Zahnreihe hinaus und es fehlt - wie bei Menschenaffen üblich - die Lücke zwischen den ersten Prämolaren und unteren Eckzähnen. Das Foramen magnum liegt weit vorn an der Unterseite des Schädels und nicht hinten wie bei Vierbeinern. Wegen dieser anatomischen Besonderheit war Dart überzeugt, dass das Kind von Taung ein Zweibeiner war.
Nach Darts Veröffentlichung reagierte das britische Anthropologen-Establishment mit ernsthaften Zweifeln bis hin zu blankem Hohn, denn der Fund, so sagte man, sei insgesamt falsch. Er hatte nämlich den Schädel eines Affen und den Kiefer eines Menschen, genau das Umgekehrte erwartete man, denn zur damaligen Zeit herrschte die Meinung vor, dass sich in der Evolution des Menschen zuerst das Gehirn vergrößerte, bevor der aufrechte Gang entstand. Außerdem gab es den in England entdeckten Piltdown-Menschen mit großem Gehirn und affenartigem Kiefer - heute als Fälschung entlarvt, damals war diese Tatsache aber noch nicht bekannt.
Die häufigste Kritik, die man am Fossil aus Taung übte, war dem Umstand geschuldet, dass es sich um ein Kind handelte. Davon zeugt ein Backenzahn des Erwachsenengebisses, der gerade dabei war, durchzubrechen. Eine flache Stirn, ein großer Unterkiefer, große Eckzähne und ein prognathes (vorspringendes) Gesicht sind charakteristische Merkmale, die sich bei heranwachsenden Affen erst später entwickeln, daher schien es unangebracht, anhand eines Kinderschädels eine neue Homininenart zu definieren. Das Kind von Taung hätte sich nach dieser Ansicht ebenso gut zu einem Affen entwickeln können.
Auch unwissenschaftliche Argumente wurden gegen das Kind von Taung als Vorfahren der Menschen vorgebracht, denn man bezeichnete Dart als zu jung und unerfahren. Auch machte sich kaum jemand die Mühe, eine lange Reise nach Südafrika anzutreten, um das Original zu untersuchen. Schließlich wurden einige Abgüsse vom Australopithecus angefertigt - sie wurden in einem Schaukasten des Südafrikapavillons auf der British Empire Exhibition im Sommer 1925 in Wembley ausgestellt. Doch das Fossil aus Taung stand im Schatten des Pekingmenschen, dessen Überreste damals gerade ins Zentrum des Interesses rückten.
Dart entschloss sich, keine weiteren Suchaktionen in Taung zu unternehmen, statt dessen arbeitete er am Aufbau eines Anatomie-Instituts an der University of the Witwatersrand in Johannesburg. In Taung wurden keine weiteren, menschenähnlichen Fossilien gefunden. Wie erklärt sich also der Umstand, dass der Kinderschädel das einzigste Fossil dieser Art in Taung blieb? Eine Erklärung scheint gefunden:
Am Fossil gibt es Spuren, die man auch an Knochenresten in Adlerhorsten beobachtet, daher könnte das Kind von Taung einem großen Greifvogel zum Opfer gefallen sein.
Erst nachdem man 20 Jahre später an heute berühmten Fundstellen im südafrikanischen »Cradle of Humankind« erwachsene Exemplare von Australopithecus fand, wurden Darts Erkenntnisse über das Kind von Taung bestätigt.