Germanische Dichtung

Die germanische Dichtung, auch altgermanische Dichtung genannt, ist eine Versdichtung, deren hervorragendes Kennzeichen der Stabreim, die Alliteration, ist, der die bedeutungstragenden Wörter durch gleichen Anlaut der Stammsilben hervorhebt.

Historische Entwicklung und Kontext

Germanische Dichtung in "ursprünglicher" Form ist nirgendwo erhalten. Sie bestand in vorgetragener, frei improvisierter oder auswendig beherrschter und tradierter Verskunst. Mündlich vorgetragen wurden sie von Spezialisten wie dem sogenannten Kultredner Þulr, dem altenglischen Scop und dem altnordischen Skáld. Eine neutrale schriftliche Aufzeichnung solcher Vortragstexte war und ist – bis heute – unmöglich. Die Entdeckung der lateinischen Buch- und Schriftkultur unterwarf die gesamte Textkultur der Germanen (nicht nur die Dichtung allein) einer radikalen und langwährenden Transformation. Ein Übergangs- und Mischzustand zwischen mündlicher und schriftlicher Dichtung herrscht für fast ein Jahrtausend (500–1500). Allenfalls Fragmente der alten Dichtung werden in den durch christlichen Einfluss inspirierten Schriftliteraturen der Germanen des Mittelalters tradiert. Eine indigene Dichtkunst pflegten die germanischen Kulturen aber schon vor der christlichen Missionierung Europas; vieles überlebte die Bekehrung, das außerhalb der römischen und christlichen Dichtungen stand. Germanische Dichtung entstand ursprünglich im Umfeld oraler Traditionen; literarisch wurde sie erst, als die Goten, Deutschen, Engländer und Skandinavier durch christliche Mönche und Missionare alphabetisiert wurden. Texte germanischer Dichtung und Erzählkunst sind als Literatur beispielsweise in der Edda, der Skaldendichtung und den altnordischen Sagas erhalten, jedoch ist nie sicher bestimmbar, ob diese Formen und Gattungen aus der rein mündlichen Kultur herübergenommen sind oder ob sie neue schriftliterarische Entwicklungen darstellen. Das stabreimende Großepos der Angelsachsen und Sachsen (Beowulf, Heliand) gilt heute als keine autochthone Form, sondern als vom lateinischen Epos angeregt.

Regionale Dichtungstraditionen

Die germanischen Kulturen gliedern sich in Europa in drei unterschiedliche Zweige: Kontinentalgermanen im nordwestlichen, östlichen und süd-südöstlichen Mitteleuropa, Nordgermanen in Skandinavien und Island sowie die angelsächsischen Kulturen Englands mit jeweils eigenen Sprachen – althochdeutsch, altsächsisch, altenglisch und altnordisch – in denen mündlich gedichtet wurde. Verschriftlicht wurden germanische Dichtungen erst durch den Einfluss der christlichen Mission.

Goten

Die von Bischof Wulfila für seine Bibelübersetzung entwickelte Schrift der Goten diente wohl nicht dazu, weltliche Dichtung zu überliefern. Bekannt sind fast ausschließlich theologische Denkmäler in gotischer Sprache: Bibel-, Lehr- und Rechtstexte. Ansonsten bediente die gotische Elite sich der Schrift und Sprache, in der sie lesen gelernt hatte: Griechisch oder Lateinisch.

Mitteleuropa

Im altdeutschen Idiom, in der Zeit von 750 bis 1150, entstand größtenteils Zweckliteratur, die der christlichen Bekehrung und Verbreitung der Lehre diente. Die vorhandene indigene germanische Dichtung kontinentaleuropäisch-germanischer Kulturen entwickelte sich in diesen vier Jahrhunderten nicht zur Schriftliteratur, sondern blieb mündlich. In den Klöstern wurde in Latein gedichtet, an den Höfen des Adels existierte nebeneinander Latein für die "höhere" Kultur und mündliche deutsche Dichtung (Heldendichtung) für die Unterhaltung des generell noch schriftunkundigen Adels. An die Stelle des Stabreims trat jedoch bereits ab dem 9. Jahrhundert der Endreimvers, der eine 'Erfindung' der geistlichen Dichtung (vgl. Otfried von Weißenburg) war. Jedoch ist man sowohl über die Stoffe als auch über die Formen nichtgeistlicher Adelsdichtung zwischen 9. und 12. Jahrhundert schlecht unterrichtet. Erst im 12. Jahrhundert gelang, angeregt aus Frankreich, die Amalgamierung von volkssprachlichem Vers, weltlich-ritterlichen Stoffen, Unterhaltungsfunktion und Buchform.

Die germanische Dichtung, wie sie außerhalb des Klerus weiterlebte, entstand ganz im oralen Milieu der Analphabeten und mündlichen Tradition. Bis weit in das Hochmittelalter wurde die indigene germanische Dichtkunst in England und in Skandinavien gepflegt.

England

In der altenglischen Kultur war das Verhältnis zwischen indigener Dichtung und fremden Traditionen ein graduell anderes. Juristische Texte und Annalen wurden in Altenglisch niedergeschrieben. Daneben existierte die an Klöster gebundene Geschichtsschreibung, die sich des Lateins bediente (Bedas Historia ecclesiastica um 730 oder die Vita Alfredi um 900). Die Kirche tolerierte die germanische Dichtung als künstlerische Ausdrucksweise der Bevölkerung: Altenglisch und Latein, weltliche und kirchliche Stoffe existierten vor allem in den nordenglischen Klöstern nebeneinander, verschiedenen Themenbereichen verpflichtet, wie es weder in Mitteleuropa noch in Skandinavien geglückt ist. Spätestens mit der Ankunft der Normannen brach diese dichterische Tradition ab.

Skandinavien

Allgemein gilt der skandinavische Norden als der Bewahrer der germanischen Dichtung, obwohl Dänemark, Schweden und Norwegen wenig hinterlassen haben. Als sich die Schrift in diesen Kulturen etablierte, etwa um 1200, kamen gleichzeitig ritterliche Literaturgattungen (Versroman, Ballade) in Mode.

Island

Island, wo im 13. Jahrhundert der größte Teil der heute erhaltenen germanischen Dichtungen aufgeschrieben wurde, entschädigt für die großen Verluste der anderen Regionen. Die dort entstandenen Werke prägen heute, möglicherweise zu Unrecht, unsere Vorstellung von der germanischen Dichtung. Ohne die Produktivität der mittelalterlichen isländischen Autoren gäbe es wenig über die germanische Dichtung zu sagen. Nur im demokratischen Umfeld des mittelalterlichen Islands gab es eine weltliche Bildung, die der Gelehrsamkeit in den Klöstern standhalten konnte. Obwohl auch hier der christliche Einfluss erheblich war, konnten sich indigene Formen und Inhalte behaupten. Auch der Einfluss der frankophonen Ritterromane erreichte Island später. Die isländischen Quellen belegen auch den Einfluss der irischen Dichtung, der durch Handel und christliche Sklaven nach Island vermittelt wurde. Die isländische Dichtung enthält in Bezug auf Form und Inhalt ihrer Dichtungen viel ursprünglich Germanisches. Andererseits kann der Anteil neuer, eigenständiger Entwicklungen gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die neuere Forschung neigt immer mehr dem Urteil zu, dass die isländische Dichtung eher eine Sonderentwicklung der germanischen Dichtung darstellt als ihre Konservierung. Besonders die prosaische Sagaliteratur mit ihrem eigenen Stil und ihren kulturspezifischen Themen muss in diesem Zusammenhang erwähnt werden. Die Sagaliteratur ist eine von Anfang an schriftliche Literatur.

Sekundäre Quellen

Aufgrund der sehr fragmentarischen Überlieferungssituation authentischer germanischer Dichtung gewinnen sekundäre Quellen eine hohe Bedeutung. Zeugnisse über Kompositions- und Versbildungstechniken, über die Weise des Vortrags und den Inhalt der Dichtungen finden sich zuerst in lateinischer Sprache bei Tacitus, bei dem römischen Kaiser Julian (um 360), dessen Ohr die Gesänge der Alamannen beleidigten, bei dem Griechen Priskos, der an Attilas Hof zwei Dichtern zuhörte, und dem Goten Jordanes (um 550), der die historischen Ursprünge und die Kultur der Goten aus eigener Anschauung beschrieb.

Quellen in den germanischen Sprachen finden wir im Wortschatz, in den Termini für Dichter und Dichtung, in den überlieferten Sprichwörtern, den Dichtungen der Skalden sowie in den isländischen Sagas. Oft kann eine erhaltene Bezeichnung bezeugen, was in der Sache verloren ging. Aus isländischen Texten erfahren wir Bezeichnungen der verschiedenen Gedichte wie kvíða, drápa oder flokkr, die allerdings nicht auf die frühe germanische Dichtung übertragen werden können. Über Sprache und Stil berichten poetologische Lehrschriften wie die Skáldskaparmál. Der Däne Saxo Grammaticus verfasste eine Dänische Geschichte, wieder in Latein, in der er sich auf isländische Gewährsleute stützte und neben prosaischen Erzählungen auch Zitate aus skandinavischer Dichtung überlieferte. Snorri Sturluson und seinem Kreis, überhaupt der isländischen gelehrten Frühgeschichte verdanken wir umfangreiches dichterisches Material; insbesondere in der Skáldskaparmál, der Lehre der Dichtersprache, der Snorra-Edda. Und wieder ist es die altnordische Überlieferungssituation, die das Bild der germanischen Dichtung prägt; die altdeutsche und altenglische Tradition stellt sich weitaus ungünstiger dar.

Versbildungstechniken

Die Verszeile

Die germanische Dichtung verwendet für ihre Inhalte prinzipiell die Langzeile, die aus zwei Halbzeilen gebildet wird. Diese charakteristische Verszeile entwickelte sich aus dem Spruchvers, in Form der Halbzeile, der mit einem zweiten zu einer Langzeile erweitert wurde. Ein solcher Spruchvers besteht aus vier Takten. Ein jeder dieser Takte (oder Hebungen) repräsentiert eine betonte Silbe. Von diesen vier Hebungen dürfen wiederum zwei eine stärkere Betonung tragen (Haupthebung). Im Gegensatz zum skaldischen Vers ist die Anzahl der Silben im eddischen variabel. Die beiden Halbzeilen der germanischen Langzeile bilden eine semantische Einheit. Die zweite Halbzeile steht auch syntaktisch in Zusammenhang mit der ersten: Sie darf nicht mehr, eher weniger Silben aufweisen als die erste Halbzeile. Die beiden Halbzeilen werden durch eine Zäsur getrennt: der vierte Takt muss auf einem Wortende oder einem Satzende liegen. Der Stabreim verbindet die beiden Halbzeilen zu einer syntaktisch-semantischen Einheit. Im Idealfall enthält eine Langzeile drei Stabe (altnordisch stafr) die ungleich auf ihre Länge verteilt sind. Die beiden ersten Stäbe (Nebenstäbe) liegen in der ersten Halbzeile, den dritten Stab, den Hauptstab, der das sinnstiftende Wort auszeichnet, erhält die zweite Halbzeile. In den nordischen Dichtungen muss der dritte Stab immer auf dem ersten Takt der zweiten Halbzeile liegen. Außer dieser existieren in den regionalen germanischen Dichtungstraditionen auch Langzeilen mit zwei oder vier Stäben beziehungsweise zweimal zwei Stäben. Neben der Langzeile mit vier Hebungen gibt es in der germanischen Dichtung, v. a. im Versmaß Ljóðaháttr, auch die Verszeile mit drei Takten.

Der Reim

Germanische Dichter kombinieren in ihren Dichtungen drei verschiedene Reimformen, die charakteristischen Formen:

Stabreim und Binnenreim kommen der Struktur der germanischen Sprache entgegen.

Die Strophe

Eine durchgehende strophische Struktur ist in der germanischen Dichtung nicht von Beginn an üblich gewesen. Die ältesten schriftlich bezeugten Dichtungen, wie beispielsweise das Hildebrandslied, waren unstrophisch. Strophen waren in dieser Phase wahrscheinlich nur der rituellen Dichtung vorbehalten und dienten in einem oralen Milieu der besseren Memorierbarkeit und Überlieferung. Lediglich die nordische eddische und Skaldendichtung scheint immer strophisch gewesen zu sein. Strophen geben der germanischen Dichtung einen formalen Rahmen und fassen inhaltliche und thematische Sequenzen zusammen. Inhalte können aber auch strophenübergreifend konzipiert werden. Die vier germanischen Strophenformen sind in der nordischen Edda am reichhaltigsten vertreten und dort am besten untersucht:

  • Fornyrðislag, der Altmärenton, das Versmaß für „alte Sagen“;
  • Ljóðaháttr, das strophische Versmaß, auf der Liedton;
  • Galdralag, das Versmaß von „Zaubergesängen“;
  • Rúnalag, das Versmaß der Dichtungen, in denen von Runen die Rede ist.

Die skaldische Strophe gehört wohl weltweit zu den elaboriertesten Dichtungen ihr Art. Die nordischen Skalden schufen in dieser Gattung ganz besonders ausgeklügelte, komplizierte Wortkunst, die hohe Ansprüche an Ordnungsregeln und dichterischen Stil stellte.

Das Dróttkvætt (der Hofton) basiert auf der germanischen Langzeile mit ihren zwei Halbzeilen. Vier dieser Halbzeilen (zwei Langzeilen) fasste der Skalde in einer Halbstrophe (altnordisch helmingar) zusammen; eine Halbstrophen bildeten eine der skaldischen Strophen wie sie in vielen der isländischen Íslendinga sögur (Isländersagas) als Lausavísur (lose Strophen) überliefert sind. Eine solche aus zwei Halbstrophen bestehende skaldische Strophe bildet eine semantische Einheit. Besonderes Merkmal dieser Strophe ist die oft völlige Missachtung der Syntax der natürlichen Alltagssprache, da die sinntragenden Halbzeilen oder Langzeilen ineinander verschränkt und so zerstückelt wurden. Aber nicht nur die syntaktischen Regeln wurden durch die Skalden aufgebrochen, der umgangssprachliche Wortschatz wurde durch Synonyme (Heiti und Kenningar) so kompliziert, dass die meisten Skaldenstrophen nur für den verständlich war, der Teilnehmer der Situation war, in der eine solche Strophe entstand oder der über das notwendige (mythologische) Hintergrundwissen verfügte. Themen der Skaldenstrophen, ganz anders als der eddischen, waren nämlich nicht mythologischer Art, sondern oft spontane (Stegreif-)Reaktionen auf aktuelle Ereignisse oder persönliche Erfahrungen. Der Unterschied eddisch-skaldisch orientiert sich nicht nur an Anonymität oder Autorschaft. Er entspricht auch dem Unterschied: kollektiv-individuell (subjektiv).

Synonyme: Heiti und Kenningar

Poetische Synonyme wie Heiti und Kenningar finden nicht nur in der eddischen Dichtung, sondern v. a. in der Skaldendichtung, und dort besonders im Preislied reiche Anwendung. Heiti und Kenningar sind Umschreibungen, die anstatt der eigentlichen Namen und Begriffe verwendet werden. Beide vermitteln nicht nur Inhalte, sie ermöglichen auch ornamentale Variationen der poetischen Sprache des Skalden und stellen ein dichterisches Mittel dar, die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf wichtige Textstellen zu konzentrieren:

  • Heiti sind eingliedrige Umschreibungen für ein Hauptwort, häufig Götternamen, archaische Begriffe, seltener Lehnwörter. Besonders in den Þulur finden sich Listen solcher Heiti zu bestimmten Termini, oft mit nordischen Mythen korrespondierend.
  • Die Kenningar (Sing. Kenning) sind zwei- oder mehrgliedrige Umschreibungen von Begriffen, die aus mehreren Wörtern bestehen oder ein zusammengesetztes Wort bilden.

Heiti und Kenningar setzen für ihr Verständnis mythologisches Hintergrundwissen voraus.

Literatur

  • Georg Baesecke: Vor- und Frühgeschichte des deutschen Schrifttums. Band 1: Vorgeschichte. Halle/Saale 1940.
  • Andreas Heusler: Die altgermanische Dichtung (= Handbuch der Literaturwissenschaft). Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1957.
  • Jan de Vries: Altnordische Literaturgeschichte. Mit einem Vorwort von Stefanie Würth. 3., unveränderte Auflage. De Gruyter, Berlin 1999, ISBN 3-11-016330-6 (in einem Band).
  • Heinz KlingenbergDichtung. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde (RGA). 2. Auflage. Band 5, Walter de Gruyter, Berlin/New York 1984, ISBN 3-11-009635-8, S. 394–404.
  • Brian Murdoch, Malcolm Read (Hrsg.): Early Germanic Literature and Culture (= Camden House History of German Literature. Band 1). Camden House, Rochester/NY 2004.
  • Klaus von See: Germanische Verskunst (= Sammlung Metzler: Realienbücher für Germanisten. Band 67). Metzler, 1967, ISSN 0558-3667, OCLC 655003744.
  • Rudolf Simek, Hermann Pálsson: Lexikon der altnordischen Literatur (= Kröners Taschenausgabe. Band 490). Kröner, Stuttgart 1987, ISBN 3-520-49001-3.

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