Germanische Mythologie

Germanische Mythologie bezeichnet im engeren Sinne die Mythologien der verschiedenen germanischen Kulturen der Eisen- und Völkerwanderungszeit, wobei die Mythen von religiösen Vorstellungen und Riten zu unterscheiden sind. Die vorchristlichen Glaubensvorstellungen der germanischen Völker gingen mit der Christianisierung in unterschiedlichem Maße in dem jeweiligen Volksglauben auf (siehe auch Synkretismus), zur Götterwelt siehe Nordische Mythologie.

Quellenlage

„Sowohl die Archäologie als auch neuerdings die Literaturwissenschaften haben zeigen können, dass uns die Quellen deswegen ein so uneinheitliches, nur schwer zu homogenisierendes Bild geben, weil die germanische Religion regional, sozial und chronologisch außerordentlich stark differenziert war, so dass wir eigentlich eher von ‚germanischen Religionen‘ sprechen müssten. Die Quellen müssen daher heute ganz anders und viel kritischer verwendet werden, als man das damals, bald nach der erstmaligen Herausgabe vieler literarischer mittelalterlicher Texte konnte.“[1]

Die indigene Überlieferung der germanischen Mythologie steht heute in unterschiedlichen Quellenarten zur Verfügung. Die wichtigsten dieser Quellen sind

  • die Dichtungen des Codex Regius (bzw. der Lieder-Edda);
  • die Texte der Snorra-Edda sowie Snorris historisch-mythologisches Werk Heimskringla;
  • die Chroniken beziehungsweise geographischen, historischen oder ethnographischen Studien antiker Autoren wie Tacitus (Annalen, Historien, Germania), Plutarch, Jordanes und Prokopius (De bello Gothico);
  • die altnordisch-isländische Sagaliteratur sowie
  • die neun Bücher der dänischen Geschichte in den Gesta Danorum des Saxo Grammaticus.

Die erhaltenen Überlieferungen zeigen ein vielschichtiges Bild, in dem sich Mythen, Epen, Märchen, volkstümliche Erzählungen, Rechts- und Merksprüche, Sprichwörter oder magische Formeln sowie Gebete mischen. Der größte Teil dieser schriftlichen Überlieferungen ist nordeuropäischen Ursprungs, geht auf die Nordgermanen zurück, geographisch auf Skandinavien und Island. Die Mythen und Epen der Süd- oder Kontinentalgermanen sind allenfalls in Spuren überliefert. Nennenswerte schriftliche Überlieferungen existieren nicht mehr. Einhard hat zwar berichtet, Karl der Große habe gewisse Texte aufschreiben lassen, aber weder Umfang noch Inhalt sind bekannt. In Bezug auf die weitere Behauptung, Ludwig der Fromme habe sie wegen heidnischen Inhalts vernichten lassen, gibt es keinerlei Hinweise.

Die vorhandenen altgermanischen Überlieferungen liegen in schriftlicher, poetischer oder prosaischer Dichtung und als literarische Werke vor, die aus einst oral tradierten Mythen und Epen schöpfen. Die Verfasser dieser Literatur waren die anonymen Autoren der Sagaliteratur, in Adelskreisen verkehrende Skalden oder wissenschaftlich orientierte Mythographen, Männer, die Felix Genzmer in einem Kommentar der Hymiskviða als Märenkenner, die Karl Simrock in seiner Edda-Übersetzung „Gottesgelehrte“ (altnordisch goðmölugir) nennt. Durch die mündliche Überlieferung kam es dabei auch zu Überschneidungen und Missverständnissen (siehe Nibelungenlied und Thidrekssaga). Das Alter der Erzählungen, die diese Autoren nutzten, verliert sich weitgehend im Dunkel der Geschichte. Fest steht aber, dass isländische Mönche vom 9. bis ins 13. Jahrhundert an der Niederschrift, Kompilation oder wissenschaftlichen und literarischen Bearbeitung regionaler mythologischer Überlieferungen intensiv beteiligt waren, wobei auch in Frage steht, ob ein Mönch zu dieser Zeit schon die christliche Lehre bereits vollständig rezipiert und verinnerlicht hatte. Zum christlichen Einfluss siehe auch Quellen zur nordischen Mythologie.

Angeln und Sachsen in England

Die nordwesteuropäische germanische Tradition der Angeln, Sachsen und Jüten in England äußert sich ganz besonders in dem großen Beowulf-Epos, der Angelsächsischen Chronik sowie mehreren kleineren Werken. In diesen Texten zeigt sich eine mit Skandinavien eng verbundene narrative Tradition.

Kontinentalgermanen

Interessante, wenn auch nur bedingt zuverlässige, antike Texte über kontinental-germanische Mythologie und Religion sind die Germania von Tacitus und De bello gallico von Caesar. Frühmittelalterliche Zaubersprüche und andere kleinere Werke bezeugen zudem Vorstellungen der kontinentalgermanischen Religion vor der Christianisierung.

Nordgermanen in Skandinavien

Die reichhaltigste Überlieferung stellt die Nordische Mythologie dar. Die schriftlichen Zeugnisse Skandinaviens sind erst nach der Christianisierung entstanden und daher in unterschiedlichem Umfang von christlichem Glauben und monastischer Bildung beeinflusst.

Die wichtigsten Quellen liefert die eddische Mythologie. Dabei handelt es sich um hoch artifizielle Dichtung des mittelalterlichen Islands. Sie wurde im Zusammenhang mit der isländischen, gelehrten mittelalterlichen Frühgeschichte bis ins 13. Jahrhundert hinein aufgeschrieben, bildet den Volksglauben dieser Zeit aber nicht identisch ab. Die nordgermanische Götter-, Helden- und Schöpfungsmythologie wird

  • in der manchmal als älter bezeichneten, poetischen Lieder-Edda (auch „Ältere-Edda“ oder unrichtig Sæmundar-Edda genannt) und
  • in der zweigeteilten, prosaischen Snorra-Edda (oder Prosa-Edda bzw. „Jüngere Edda“), in der mythologisches Wissen (in der Gylfaginning) und ein Lehrbuch für Skalden (die Skáldskaparmál) tradiert.

Auch die Lieder-Edda ist zweigeteilt:

  • in die Götterlieder (Göttermythen und religiös-philosophische Texte) und
  • die Heldenlieder (von denen die Helgakviða, die Guðrúnarkviða und die zum Kreis der Nibelungensage gehörenden Sigurðarkviða und Atlakviða die bekanntesten sind).

Bei den Götterliedern handelt es sich einerseits um Wissensdichtung, die umfangreiches kosmogonisches Wissen tradiert (Völuspá, Grímnismál, Vafþrúðnismál oder Baldrs draumar), andererseits aber um eine moralisch-ethisch belehrende Spruchdichtung (Hávamál). Die Heldenlieder berichten in drei unabhängigen Mythenkreisen von den heroischen Taten Helgis, Sigurðrs und Jörmunrekrs. Die Lieder-Edda enthält eine ältere und eine jüngere Schicht poetischer Götter- und Heldendichtungen, die auf eine alte Handschrift (den Codex Regius) zurückgehen. Der Codex Regius ist eine um 1640 aufgefundene Handschrift, welche die Dichtungen der Lieder-Edda enthält, und der aufgrund paläographischer und linguistischer Kriterien in das Jahr 1270 datiert werden konnte. Bis in das 19. Jahrhundert wurden die Texte des Codex Regius dem Priester Sæmundur fróði (dem Weisen), Islands erstem Dichter (1056 bis 1133), zugeschrieben. Da diese Zuschreibung mittlerweile dem Forschungsstand widerspricht, wird auch die Bezeichnung Sæmundar-Edda nicht mehr verwendet.

Siehe auch

Portal: Mythologie – Übersicht zu Wikipedia-Inhalten zum Thema Mythologie

Literatur

In der Reihenfolge des Erscheinungsjahrs:

  • Jacob Grimm: Deutsche Mythologie. Marix Verlag, Wiesbaden 2007, ISBN 978-3-86539-143-8 (Neuauflage der Ausgabe 1875–1878).
  • Wolfgang Golther: Handbuch der germanischen Mythologie. Marix Verlag, Wiesbaden 2004, ISBN 3-937715-38-X (Neuauflage der Ausgabe Hirzel, Leipzig 1895).
  • Eugen Mogk: Germanische Mythologie. G.J. Göschen’sche Verlagshandlung, Leipzig 1906.
  • Régis Boyer: Yggdrasill: La Religion des anciens Scandinaves. Payot, Paris 1992, ISBN 2-228-88469-3.
  • Tor Age Bringsvaerd: Die wilden Götter, Sagenhaftes aus dem hohen Norden (= Andere Bibliothek. Nr. 200). Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2001, ISBN 978-3-8218-4726-9.
  • Rudolf Simek: Religion und Mythologie der Germanen. WBG, Darmstadt 2003, ISBN 3-8062-1821-8.
  • Rudolf Simek: Götter und Kulte der Germanen (= Beck’sche Reihe, C.-H.-Beck-Wissen. Nr. 2335). C. H. Beck, München 2004, ISBN 3-406-50835-9.
  • Rudolf Simek: Mittelerde: Tolkien und die germanische Mythologie. Verlag C. H. Beck, München 2005, ISBN 3-406-52837-6.
  • Rudolf Simek: Lexikon der germanischen Mythologie (= Kröners Taschenausgabe. Band 368). 3., völlig überarbeitete Auflage. Kröner, Stuttgart 2006, ISBN 3-520-36803-X.

Weblinks

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Einzelnachweise

  1. Rudolf Simek: Mittelerde – Tolkien und die germanische Mythologie. C.H. Beck, München 2005, S. 11.

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