Die El Sidrón Höhle in Asturien (Nordspanien) ist eine der westlichsten Fundorte von Neandertalern auf der iberischen Halbinsel. Sie enthält eine große Anzahl menschlicher Fossilien sowie Steinwerkzeuge, die von den Neandertalern hergestellt wurden.
2013 ist es einem Forscherteam von der Universität Oviedo (Spanien) dank der Entwicklung neuer analytischer Verfahren gelungen, eine genauere Datierung für die Neandertaler in Asturien zu liefern. Durch eine neue Art der Vorbehandlung konnte man die Kontamination alter Knochen mit jüngerem Kohlenstoff soweit reduzieren, dass die Fehlerquote von 40.000 auf knapp 3.200 Jahre sank.
Der Mittelwert zwischen diesen neuen Daten und den Daten, die zuvor von einem französischen Labor gefunden wurden, ergibt für die Bewohner von El Sidrón ein Alter von 49.000 Jahren.
Das genaue Alter der Überreste aus El Sidrón könnte eine wichtige Information in der Diskussion darüber sein, wann der Übergang vom Neandertaler zum Homo sapiens in Europa stattfand. "Einige andere Datierungen, die für die menschlichen Überreste bestimmt wurden, beliefen sich auf nur rund 10.000 Jahre. Diese Ergebnisse sind mit anderen Daten inkonsistent und können als nicht glaubwürdig eingestuft werden. Außerdem würde dieses junge Alter in der Diskussion darüber, wann Homo neanderthalensis ausstarb, wohl von den meisten abgelehnt werden", erklärt Marco de la Rasilla, Koordinator des Forschungsteams.
Die ersten Hinweise auf El Sidrón als prähistorische Fundstätte kamen 1994 ans Licht, als Freizeitforscher ein paar Kieferknochen fanden, von denen sie annahmen, dass sie von Menschen stammten. Die herbeigerufene Polizei glaubte, die Knochen seien Überreste eines Gefallenen aus dem spanischen Bürgerkrieg, denn damals diente die Höhle republikanischen Widerstandskämpfern als Versteck. Die Polizei entdeckte weitere Knochenfragmente in El Sidrón, die sie schließlich zur weiteren Untersuchung an forensische Wissenschaftler schickte. Diese erkannten jedoch schnell, dass es sich bei den Knochen nicht um die Überreste eines Soldaten handelt, ja nicht einmal um die Knochen eines modernen Menschen. Die Freizeitforscher waren auf die Überreste eines Neandertalers gestoßen, der vor 50.000 Jahren lebte.
Heute ist El Sidrón einer der wichtigsten Fundorte der Welt, wenn es darum geht, etwas über die Neandertaler und ihr Leben herauszufinden. Neandertaler lebten in Europa und Asien vor etwa 240.000 bis 30.000 Jahren. Im weiteren Verlauf der Untersuchungen fanden Wissenschaftler in El Sidrón weitere 1.800 Knochenfragmente, von denen einige sogar noch Bruchstücke von DNA enthielten.
Aber das eigentliche Geheimnis der Höhle blieb 16 Jahre lang ungelüftet. Was geschah mit den Menschen von El Sidrón? In einer Veröffentlichung des Magazins Proceedings of the National Academy of Sciences gaben spanische Wissenschaftler, die die Knochen und ihre DNA analysierten, eine grausame Antwort. Die Menschen, ein Dutzend Mitglieder eines Clans, waren möglicherweise Opfer von Kannibalen.
"Eine erstaunliche Entdeckung", kommentierte Todd Disotell, Anthropologe an der New York University. Chris Stringer vom Natural History Museum in London sagte, der Bericht "gibt uns einen ersten Blick auf sozialen Strukturen der Neandertaler."
Alle Knochen befanden sich in einem zimmergroßen Gang der Höhle, den die Wissenschaftler "Tunnel of Bones" nannten. Sie wurden in einem Durcheinander aus Kies und Schlamm gefunden, was bedeutet, dass die Neandertaler nicht in der Höhlenkammer selbst starben, sondern an der Erdoberfläche über der Höhle zu Tode kamen.
Ihre Überreste konnten nicht lange dort gelegen haben. "Die Knochen wurden weder von Fleischfressern abgenagt noch sind sie stark verwittert", sagte Carles Lalueza-Fox von der Universität Pompeu Fabra in Barcelona, Co-Autor der Studie. Ein Teil der Decke im "Tunnel of Bones" brach wahrscheinlich während eines Gewitters ein und die Knochen fielen in die Höhle.
Mit den Überresten der Menschen wurden keine Tierknochen in den "Tunnel of Bones" gewaschen. In der Tat sind die einzigen andere Dinge, die man in der Höhle noch fand, Fragmente von Steinklingen der Neandertaler. Als die Wissenschaftler die Neandertalerknochen genauer untersuchten, fanden sie Schnittmarken darauf - ein Anzeichen dafür, dass die Klingen dazu verwendet wurden, die Muskeln von den Knochen zu schneiden. Die Langknochen wurden aufgebrochen. Aufgrund dieser Hinweise schlossen die Wissenschaftler, dass die Neandertaler Opfer von Kannibalismus waren. Hinweise auf Kannibalismus bei Neandertalern gibt es auch an anderen Fundorten (Krapina, Kroatien), aber El Sidrón ist außergewöhnlich für das Ausmaß.
Nach der Bestimmung der Knochenfragmente versuchten die Forscher, diese wieder zusammenzusetzen. Einige lose Zähne passten beispielsweise nahtlos in verschiedene Kieferknochen. "Die ganze Sache war ziemlich kompliziert. In der Tat, es ist ein Durcheinander", sagte Dr. Lalueza-Fox.
Nach Jahren der Untersuchung dieses anatomischen Puzzles konnten Dr. Lalueza-Fox und seine Kollegen 12 Individuen identifizieren. Aus der Form der Knochen konnten die Wissenschaftler auf ihr Alter und Geschlecht schließen. Sie gehörten drei Männern, drei Frauen, drei Teenagern und drei Kindern, darunter ein Säugling.
Sobald die Wissenschaftler wussten, mit welcher Menschenart sie es zu tun hatten, suchten sie nach DNA in den Knochen. Die kalte, feuchte Dunkelheit von El Sidrón bietet ausgezeichnete Bedingungen für die Erhaltung alter DNA über Jahrtausende hinweg. Dr. Lalueza-Fox und seine Kollegen haben eine Reihe von interessanten Berichten über die Neandertaler-DNA veröffentlicht. Bei zwei Personen fanden sie beispielsweise eine Genvariante, die ihrem Träger rote Haare beschert. Die Wissenschaftler begannen nun mit einem ehrgeizigen Projekt, bei dem sie versuchen wollten in den Zähnen aller 12 Personen DNA zu finden. Bei vier Personen konnten sie männliche Y-Chromosomen identifizieren. Basierend auf ihren Knochen hatten die Wissenschaftler bereits vorher alle vier als männlich identifiziert.
Nun machten sich die Wissenschaftler daran mitochondriale DNA zu finden, die nur von Müttern an die Nachkommen weitergegeben wird. Insbesondere suchten sie nach zwei kurzen Abschnitten, die man als HVR1 und HVR2 bezeichnet. Diese neigen besonders dazu, schon von einer Generation auf die nächste zu mutieren. Und tatsächlich: bei allen 12 Neandertalern fand man HVR1- und HVR2-Abschnitte. So konnten die Wissenschaftler herausfinden, dass sieben von ihnen auf die gleiche mitochondriale Linie zurückgehen, vier Neandertaler auf eine zweite Linie und einer auf eine dritte.
Dr. Lalueza-Fox argumentiert, dass die Neandertaler eng miteinander verwandt gewesen sein müssen: "Wenn Sie auf die Straße gehen und 12 Personen nach dem Zufallsprinzip auswählen, werden Sie wohl kaum sieben unter ihnen finden, die zur gleichen mitochondrialen Abstammungslinie gehören, aber wenn Sie zum Geburtstag einer beliebigen Großmutter eingeladen sind, werden Sie wahrscheinlich auf Brüder, Schwestern und Cousins ersten Grades treffen. Es wäre sehr einfach für Sie, sieben Personen mit der gleichen mitochondrialen Linie ausfindig zu machen."
Alle drei Männer hatten die gleiche mitochondriale DNA, was bedeutet, dass sie Brüder, Vettern oder Onkel gewesen sein könnten. Die Frauen kamen jedoch alle aus verschiedenen Linien. Dr. Lalueza-Fox glaubt, dass Neandertaler in kleinen Gruppen von nahen Verwandten lebten und wenn sich zwei Clans trafen, tauschten sie manchmal untereinander die Töchter.
"Ich kann mir nicht helfen, aber ich denke, dass Neandertalermädchen genauso bitterlich weinten wie heutige Mädchen, wenn sie damit konfrontiert werden, ihre nächsten Familienangehörigen am Tag ihrer 'Hochzeit' verlassen zu müssen", sagte Mary Stiner, Anthropologin an der University of Arizona.
Linda Vigilant, Anthropologin am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie, sieht in der Studie "einen guten Anfang". Allerdings bezweifelt sie Dr. Lalueza-Fox's Behauptung, dass die Neandertaler aus El Sidrón unmittelbare Familieangehörige gewesen seien, nur weil sie auf die gleiche mitochondriale Linie zurückgehen. Bei ihrer eigenen Arbeit mit wilden Schimpansen fand sie heraus, dass einige Schimpansen, obwohl mit identischen HVR1 und HVR2-Abschnitten ausgestattet, nicht eng miteinander verwandt waren.
Der beste Weg, um diesen Punkt der Debatte zu klären, sagte Dr. Vigilant, ist mehr Neandertaler-DNA zu finden, um sie mit den Genen aus El Sidrón vergleichen zu können. "Es ist spannend, ob wir in naher Zukunft tatsächlich in der Lage sein werden, diese Frage zu beantworten", sagte Dr. Vigilant.
Dr. Lalueza-Fox denkt, dass es in den nächsten Jahren möglich sein wird eine detaillierte Genealogie der Neandertaler aus El Sidrón zu zeichnen. Er hofft auch, eine bessere Vorstellung davon zu bekommen, wie sie starben. Die Steinklingen könnten ein Anhaltspunkt sein. Das Material, aus dem sie hergestellt wurden, stammt von Felsen, die sich nur ein paar Kilometer von der Höhle entfernt befinden. Die Opfer können in das Territorium eines anderen Clans eingedrungen sein. Für diesen "Hausfriedensbruch" bezahlten sie mit ihrem Leben.
Literatur
- Lalueza-Fox, C., Sampietro, M.L., Caramelli, D., Puder, Y., Lari, M., Calafell, F., Martinez-Maza, C., Bastir, M., Fortea, J., de la Rasilla, M., et al. (2005). Neandertal evolutionary genetics; mitochondrial DNA data from the Iberian Peninsula. Mol. Biol. Evol. 22, 1077-1081
- Lalueza-Fox, C., Krause, J., Caramelli, D., Catalano, G., Milani, L., Sampietro, M. L., et al. (2006). Mitochondrial DNA of an Iberian Neandertal suggests a population affinity with other European Neandertals. Current biology: CB, 16(16), R629.
- Santamaría, D., Fortea, J., De La Rasilla, M., Martínez, L., Martínez, E., Cañaveras, J. C., et al. The technological and typological behaviour of a Neanderthal group from El Sidrón cave (Asturias, Spain). Oxford Journal of Archaeology, 29(2), 119-148.
- R. E. Wood, T. F. G. Higham, M. De La Rasilla et al. 2013. A new date for the Neanderthals from El Sidrón cave (Asturias, northern Spain). Archaeometry 55 (1): 148 DOI: 10.1111/j.1475-4754.2012.00671.x
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