Ein 7.000 Jahre altes Massengrab - mit kopflosen Skeletten
Die Skelette von 38 Menschen, übereinander, nebeneinander, gestreckt auf dem Bauch, gehockt auf der Seite, auf dem Rücken mit abgespreizten Gliedmaßen: und fast alle ohne Kopf. Was Archäologinnen und Archäologen in diesem Sommer im slowakischen Vráble in einer jungsteinzeitlichen Siedlung entdeckt haben, hat selbst erfahrene Forschende überrascht.
Schon im vergangenen Jahr hatte das Team dort einzelne, kopflose Skelette freigelegt. „Wir haben mit weiteren menschlichen Skeletten gerechnet, doch dies übertraf alle unsere Vorstellungen“, berichtet Projektleiter Prof. Dr. Martin Furholt.
Kopflose Skelette in Vráble
Bereits in den Grabungskampagnen der vergangenen Jahre stellte sich ein weiteres Alleinstellungsmerkmal Vráble-Ve`lke Lehembys heraus: Die außergewöhnlichen Funde von menschlichen Überresten.
Neben regulären Gräbern mit Beigaben im Randbereich der Siedlung und neben den Häusern, sind einige Skelette und Teilskelette in den die Siedlung umschließenden Gräben im Bereich verschiedener Tore zutage getreten, mit und ohne Kopf.
Menschliche Skelettfunde aus Gräben sind in der frühen Jungsteinzeit durchaus bekannt, jedoch ist das Muster der fehlenden Köpfe völlig neu. Waren die ersten Funde kopfloser Skelette bereits ein Rätsel für das internationale Team, stellte die diesjährige Entdeckung eine noch größere Dimension dar.
Das Bild gibts in größerer Darstellung weiter unten.
Ein bedeutender Siedlungsplatz der Jungsteinzeit
Das Ausgrabungsteam hat die 38 Skelette in einem die Siedlung umschließenden Graben gefunden. Eines gehörte zu einem Kleinkind. Dies war das einzige, bei dem der Kopf noch vorhanden war. Die Fundstelle Vráble-Ve`lke Lehemby (5.250 bis 4.950 vor unserer Zeit) war einer der größten Siedlungsplätze der frühen Jungsteinzeit in Zentraleuropa und steht seit Jahren im Forschungsfokus des SFB 1266. Die archäologischen Artefakte werden mit der Linearbandkeramischen Kultur (LBK) in Verbindung gebracht. 313 Häuser in drei nah bei einander liegenden Dörfern konnten mittels geomagnetischer Messungen identifiziert werden.
Bis zu 80 Häuser waren gleichzeitig bewohnt – eine außergewöhnliche Einwohnerdichte für diese Zeit. Die südwestliche der drei Siedlungen war von einem 1,3 Kilometer langen, doppelt angelegtem Graben umgeben und grenzte sich so von den anderen ab. Einige Bereiche waren mit Palisaden verstärkt, was eher nicht als Verteidigungsanlage, sondern als Abgrenzungsmarkierung des Dorfbereiches zu interpretieren ist.
Die 2022 gefundenen Skelette waren auf einer Fläche von ca. 15 Quadratmetern verteilt. Die Lage der Skelette lässt nicht auf sorgfältige Niederlegung der Toten schließen. Viel mehr deutet die Position an, dass die meisten in den Graben geworfen oder gerollt wurden. „Bei Massengräbern mit unübersichtlicher Fundlage orientiert sich die Identifizierung eines Individuums meist am Schädel, für uns stellt der diesjährige Fund also eine besonders anspruchsvolle Ausgrabungssituation dar“, sagt Martin Furholt.
Massaker, Kopfjäger oder friedvoller Schädelkult: viele offene Fragen
Während der Bergung der Skelette drängten sich bereits erste Fragen auf: Wurden diese Menschen gewaltsam getötet, vielleicht sogar enthauptet? Wie und zu welchem Zeitpunkt wurden die Köpfe entnommen? Oder fand die Entnahme der Köpfe erst nach der Verwesung der Leichen statt? Gibt es Hinweise auf die Todesursachen, wie einer Krankheit? In welcher Reihenfolge kamen sie in den Graben, können sie gleichzeitig gestorben sein? Oder ist es gar keine zeitgleiche Massenbestattung, sondern das Ergebnis mehrerer Ereignisse, vielleicht sogar über viele Generationen hinweg?
„Mehrere Einzelknochen ohne Skelettverbund lassen vermuten, dass der zeitliche Ablauf komplexer gewesen sein könnte. Möglicherweise wurden skelettierte Leichen in die Mitte des Grabens geschoben, um Platz für neue zu schaffen“, führt Dr. Katharina Fuchs, Anthropologin an der CAU aus. „Bei einigen Skeletten ist der erste Halswirbel erhalten, was eher auf eine sorgfältige Abtrennung des Kopfes als auf Köpfung im gewalttätigen, rücksichtslosen Sinne hinweist – aber all dies sind sehr vorläufige Beobachtungen, die es anhand weiterer Untersuchungen noch zu bestätigen gilt.“
Interdisziplinäre Untersuchungen der Skelette sollen Antworten geben
Ein wichtiger Teil der weiteren Forschungen ist, mehr über die Toten herauszufinden. Waren sie ähnlichen Alters oder repräsentieren sie einen Querschnitt durch die Gesellschaft? Waren sie miteinander oder mit anderen Toten von Vráble verwandt? Waren sie Einheimische, oder kamen sie von weit her? War ihnen eine ähnliche Ernährung gemeinsam? Kann von der Totenbehandlung eine soziale Bedeutung abgeleitet werden?
Antworten können nur im Zusammenspiel detaillierter archäologischer und osteologischer Untersuchungen, Analysen an der antiken DNA, Radiokarbondatierungen und Isotopenanalysen gefunden werden. Hierfür bietet das Kieler interdisziplinäre Forschungsnetzwerk der Johanna-Mestorf-Akademie, mit dem SFB 1266 und dem Exzellenzcluster ROOTS in Kollaboration mit der Slowakischen Akademie der Wissenschaften in Nitra hervorragende Bedingungen. Erst basierend auf den interdisziplinären Forschungsergebnissen sind weitere Überlegungen zur Bedeutung und Interpretation sinnvoll.
„Es mag naheliegen, ein Massaker mit Menschenopfern, vielleicht sogar in Verbindung mit magischen oder religiösen Vorstellungen, zu vermuten. Auch kriegerische Auseinandersetzung können eine Rolle spielen, zum Beispiel Konflikte zwischen den Dorfgemeinschaften, oder auch innerhalb dieser großen Ansiedlung. Sind diese Personen Kopfjägern zum Opfer gefallen, oder übten ihre Mitmenschen einen besonderen Totenkult aus, der nichts mit zwischenmenschlicher Gewalt zu tun hatte? Es gibt viele Möglichkeiten und es ist wichtig, offen für neue Erkenntnisse und Ideen zu bleiben. Unstrittig ist aber, dass dieser Fund für das europäische Neolithikum bisher absolut einzigartig ist“, so Projektleiterin Dr. Maria Wunderlich. Ihr Kollege Martin Furholt schließt: „Die Schädel selbst zu finden wäre natürlich großartig, hier haben wir jedoch wenig Hoffnung. Dennoch hat Vráble uns so oft überrascht, wer weiß, was die Fundstelle noch für uns parat hält“.
Diese Newsmeldung wurde mit Material der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel via Informationsdienst Wissenschaft erstellt