Harier

Die Harier (handschriftlich als Harios und [H]arii) waren ein germanischer Stamm. Laut dem römischen Geschichtsschreiber Tacitus waren die Harii eine neben den Helvekonen, Manimern, Halisionen und Nahanarvalern einer der fünf Hauptstämme der Lugier, die zwischen Weichsel und Oder siedelten.[1] Tacitus berichtet außerdem:

„ceterum Harii super vires, quibus enumeratos paulo ante populos antecedunt, truces insitae feritati arte ac tempore lenocinantur: nigra scuta, tincta corpora; atras ad proelia noctes legunt ipsaque formidine atque umbra feralis exercitus terrorem inferunt, nullo hostium sustinente novum ac velut infernum aspectum; nam primi in omnibus proeliis oculi vincuntur.“

„Dagegen die Harier übertreffen die kurz zuvor aufgezählten Stämme nicht nur an Stärke, sondern sind außerdem furchtbar anzusehen und helfen ihrer angeborenen Wildheit noch durch künstliche Mittel und günstigen Zeitpunkt nach. (Denn) schwarz sind die Schilde, bemalt die Oberkörper; finstere Nächte wählen sie zum Kampf, und so jagen sie schon durch die grauenhafte, schattenhafte Erscheinung des gespenstischen Heeres Schrecken ein, da kein Feind dem entsetzlichen, gleichsam infernalischen Anblick standhält; denn zuerst werden in allen Schlachten die Augen bezwungen.“

Tacitus: Germania 43, 4[2]

Die kurze Erwähnung bei Tacitus lässt der modernen Forschung großen Interpretationsspielraum. Während einige ältere Forscher die Harii mit dem Vandalenstamm der Charini gleichgesetzt haben, gingen andere davon aus, dass „Harii“ kein eigener Stamm, sondern nur eine Bezeichnung für die Krieger der Lugier gewesen sei.[3] Von Sprachwissenschaftlern wird der Name mit dem gotischen Wort für Heer, harjis, und den Einherjern der germanischen Mythologie in Verbindung gebracht.[4] Tacitus’ Beschreibung der Harier als „feralis exercitus“, als „Totenheer“, lässt außerdem an eine Verbindung mit der alten germanischen Vorstellung vom Wilden Heer denken.[5] Neuere textkritische Forschungen scheinen allerdings darauf hinzudeuten, dass die frühere Konjektur, die das in den Tacitus-Handschriften stehende Wort alii („die anderen“) zu <H>arii konjiziert und damit die darauffolgende Passage explizit auf diesen Stamm bezog,[6] nicht mehr ohne weiteres haltbar ist.[7] Philologen weisen außerdem auf den topischen Charakter der besonders bildlichen (ekphratischen) Beschreibung hin,[8] der auf eine eher rhetorische Funktion der Passage hindeutet.

Literatur

  • Helmut Castritius, Günter Neumann: Harier. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde (RGA). 2. Auflage. Band 14, Walter de Gruyter, Berlin/New York 1999, ISBN 3-11-016423-X, S. 9 f.
  • Bruno Rappaport: Harii. In: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft (RE). Band VII,2, Stuttgart 1912, Sp. 2365.
  • Rudolf Much: Harii. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 2, Johannes Hoops (Hrsg.). Trübner, Straßburg 1913–15. S. 450
  • Alexander Sitzmann, Friedrich E. Grünzweig: Die altgermanischen Ethnonyme. Ein Handbuch zu ihrer Etymologie (= Philologica Germanica, Band 29). Fassbaender, Wien 2008, ISBN 978-3-902575-07-4.
  • Dieter Timpe: Tacitus’ Germania als religionsgeschichtliche Quelle. In: Heinrich Beck, Detlev Ellmers, Kurt Schier (Hrsg.): Germanische Religionsgeschichte – Quellen und Quellenprobleme (= Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Band 5). Walter de Gruyter, Berlin/New York 1992, ISBN 3-11-012872-1.
  • Rudolf Simek: Lexikon der germanischen Mythologie (= Kröners Taschenausgabe. Band 368). 2., ergänzte Auflage. Kröner, Stuttgart 1995, ISBN 3-520-36802-1.

Anmerkungen

  1. Tacitus, Germania 43, 2.
  2. Zitiert nach Tacitus, Germania, Lateinisch und Deutsch von Gerhard Perl, Akademie-Verlag, Berlin 1990, S. 121.
  3. So zuerst Karl Viktor Müllenhoff, in: Zeitschrift für deutsches Altertum, Band 9, S. 247 (vgl. Rappaport, in: RE VII,2, Sp. 2365).
  4. Vgl. etwa Harii. In: Rudolf Simek: Lexikon der germanischen Mythologie (= Kröners Taschenausgabe. Band 368). 2., ergänzte Auflage. Kröner, Stuttgart 1995, ISBN 3-520-36802-1, 164f., hier S. 165.
  5. So bereits Otto Höfler, Kultische Geheimbünde der Germanen, 1934; übernommen von Rudolf Simek: Lexikon der germanischen Mythologie (= Kröners Taschenausgabe. Band 368). 2., ergänzte Auflage. Kröner, Stuttgart 1995, ISBN 3-520-36802-1, S. 165.
  6. Die Konjektur stammt ursprünglich von Franciscus Puteolanus aus dem Jahr 1475.
  7. Vgl. zu dieser Diskussion zusammenfassend Castritius, in: RGA 14, S. 9f., der Dieter Timpes Vorschlag, statt <H>arii <Lug>ii einzusetzen, für den besten hält. Trotzdem verwirft er die Konjektur Harii − anders als etwa Karlheinz Dietz: Harii. In: Der Neue Pauly (DNP). Band 5, Metzler, Stuttgart 1998, ISBN 3-476-01475-4, Sp. 158. − nicht ganz, „weil es am wenigsten in die Überlieferung eingreift und die Junktur feralis exercitus 43, 4 wohl als erläuternde Üb[ersetzung] von Harii aufzufassen ist“ (S. 10).
  8. Vgl. etwa Gerhard Perls Kommentar, in: Tacitus, Germania, Lateinisch und Deutsch von Gerhard Perl, Berlin 1990, S. 248f.

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