Warum moderne Menschen ein Kinn haben

Presseldung vom 14.05.2015

Unser Kinn hat einen evolutionären Ursprung und entstand nicht aufgrund mechanischer Beanspruchung


Warum haben moderne Menschen als einzige Primaten ein Kinn? Forscher sagen nun, es ist nicht durch mechanische Kräfte entstanden, wie sie etwa beim Kauen entstehen, sondern der Grund liegt in unserer Evolution: Als unsere Gesichter kleiner wurden, hat sich der knochige Vorsprung des Unterkiefers dieser Entwicklung widersetzt.


Der Schädel eines modernen Menschen (links) hat am Unterkiefer einen deutlichen Knochenvorsprung, im Gegensatz zum Neandertalerschädel (rechts). Nur moderne Menschen haben ein Kinn!

Publikation:


N. E. Holton, L. L. Bonner, J. E. Scott, S. D. Marshall, R. G. Franciscus, T. E. Southard
The ontogeny of the chin: an analysis of allometric and biomechanical scaling
Journal of Anatomy (2015)

DOI: 10.1111/joa.12307



Schauen Sie sich irgendeinen Primaten an, oder den Schädel eines Neandertalers, und vergleichen sie ihn mit dem Schädel eines Homo sapiens. Etwas fehlt den anderen Schädeln, oder? Genau: Moderne Menschen besitzen ein Merkmal, das allen anderen Primaten, auch Neandertalern oder anderen archaischen Menschen fehlt: ein Kinn.

"In gewisser Weise scheint es trivial, aber ein Grund, warum das Kinn so interessant ist, ist dass wir sind die einzigen sind, die eines haben", sagt Nathan Holton, der kraniofaziale Merkmale und deren Mechanik an der Universität von Iowa untersucht. "Unser Kinn ist einzigartig."

Die neuen Forschungen von Holton und seinen Kollegen von der University of Iowa deuten darauf hin, dass unser Kinn seinen Ursprung nicht in mechanischer Beanspruchung hat, wie etwa Kauen, sondern einer evolutionären Anpassung von Größe und Form des Gesichts geschuldet ist- möglicherweise auch im Zusammenhang mit Veränderungen im Hormonspiegel, als wir immer geselliger wurden.

Die Forschungsergebnisse, wenn sie denn stimmen, könnten eine Debatte beenden, die für mehr als ein Jahrhundert geführt wurde, nämlich warum moderne Menschen ein Kinn haben und wie sie sie dazu gekommen sind.

Mit Hilfe modernster, biomechanischer Gesichts- und Schädelanalysen von fast 40 Menschen vom Kleinkind bis zum Erwachsenen, schließt das Team mechanische Kräfte aus, die genug Beißwiderstand ergeben hätten, um neues Knochenmaterial im Bereich des Unterkiefers zu bilden. Vielmehr beschreiben die Forscher in einer Online-Ausgabe des Journal of Anatomy, dass die Entstehung des Kinns moderner Menschen auf einfacher Geometrie basiert: Als unsere Gesichter im Verlauf der Evolution von archaischen Menschen bis zu uns immer kleiner wurden - tatsächlich sind unsere Gesichter rund 15 Prozent kürzer als die der Neandertaler - wurde das Kinn zu einem Knochenvorsprung, sozusagen ein spitzes Wahrzeichen an der Unterseite unseres Gesichts.

"Kurz gesagt, wir haben keine Beweise gefunden, dass unser Kinn irgendeine mechanische Funktion hat. Einige Ergebnisse zeigen sogar, dass das Kinn, besonders während des Erwachsenwerdens, den mechanischen Kräften, dem es ausgesetzt ist, schlechter standhalten kann als sonst", sagt Holton, Assistenzprofessor und Anthropologe der Abteilung für Kieferorthopädie an der UI College of Dentistry. "Insgesamt bedeutet dies, dass es unwahrscheinlich ist, dass unser Kinn dazu da ist, Spannungen und Belastungen auszugleichen, und dass andere Erklärungen der Sache näher kommen."

Liegts am Testosteron?

Noch faszinierender ist, wie die Anthropologen um Robert Franciscus glauben, dass die Entstehung des menschlichen Kinns eine Folge des Wandels unseres Lebensstils vor etwa 80.000 Jahren ist und die mit der Migration des modernen Menschen aus Afrika, etwa 20.000 Jahre später, sogar noch an Fahrt aufgenommen hat. Was geschah, war dies: Jäger-Sammler-Gruppen, die bislang mehr oder weniger isoliert voneinander lebten, entwickelten sich zu immer kooperativeren Gruppen und schließlich entstanden landauf, landab gut funktionierende soziale Netzwerke. Es scheint so, dass sich die Mitglieder der so miteinander verbundenen Gruppen noch besser mit Kunst und anderen symbolischen Dingen ausdrücken konnten.

Insbesondere die Männer in diesen Gruppen wurden zu dieser Zeit friedlicher. Sie kämpften wahrscheinlich weniger um Territorien oder Besitztümer und waren eher bereit, Allianzen einzugehen, die durch den Austausch von Gütern und Ideen bekräftigt wurden. Jeder scheint davon profitiert zu haben.

Diese Änderungen im Verhalten waren verbunden mit einem reduzierten Testosteronspiegel, so die Theorie, was zu auffälligen Veränderungen am männlichen Gesichtsschädel führte. Die größte Veränderung war die Verkleinerung des Gesichts - ein physiologischer Abbau, der eine natürliche Grundlage für die Entstehung des menschlichen Kinns schuf.

"Wir argumentieren, dass die Gruppen der modernen Menschen ab einem gewissen Punkt einen Vorteil hatten, wenn sie sich in sozialen Netzwerken organisierten, denn man kann Informationen und Töchter austauschen und es gibt leichteren Zugang zu Innovationen", sagt Franciscus, der bereits zu einem Team gehörte, das im August letzten Jahres diese Theorie in der Zeitschrift Current Anthropology veröffentlichte und der auch Co-Autor der aktuellen Studie ist, "und weil das so geschehen ist, mussten Männer einander mehr tolerieren. Es muss mehr Neugier und Wissbegierde anstelle von Aggressionen gegeben haben, und der Beweis dafür liegt in unserer Gesichtsarchitektur . "

Die neue Studie scheint dieses Argument zu untermauern. Offensichtlich kann man nun ausschließen, dass unser Kinn aufgrund mechanischer Belastungen entstand, wie etwa beim Kauen auftreten.

Die Forscher untersuchten, wie der Kieferbereich im Allgemeinen auf zwei Beanspruchungen reagiert - vertikale Verbiegung und "Wishboning" (zu deutsch etwa einseitiges Ziehen). Beim letzteren wird eine Seite des Unterkiefers nach außen gezogen, was zu einer Stauchung im äußeren, vorderen Teil des Kinns führt. Bei der vertikalen Biegung wird der Ramus (der hintere, aufsteigende Ast auf jeder Seite des Unterkiefers) nach außen gespreizt, was zu einer Zugspannung im Kinnbereich führt. In beiden Fällen - davon gingen frühere Überlegungen aus - wird der Kinnbereich mechanisch belastet und auf mikroskopischer Ebene wird neues Knochenmaterial gebildet, ähnlich wie beim Gewichtheben kleine Muskelrisse entstehen, die durch neue Muskelmasse repariert werden. So entstand die Theorie, dass mechanische Beanspruchung, wie sie das Kauen verursacht, zu unserem Kinn führt.

Aber bei den periodischen Vermessungen der Köpfe der Studienteilnehmer (im Alter zwischen 3 und 20 Jahren), fanden die Forscher keine Beweise, dass diese kaum wahrnehmbaren mechanischen Kräfte zur Bildung von neuem Knochenmaterial führten. Stattdessen fanden sie fast das Gegenteil: Das Kinn von erwachsenen Personen mit sehr hohen mechanischen Beanspruchungen ähnelte am ehesten dem eines 3 oder 4-jährigen Kindes. Das heißt, sie hatten, wenn überhaupt, ein sehr kleines Kinn.

Was die Forscher dagegen erkannten: Die Vergrößerung des Kinns hat mehr damit zu tun wie sich jedes einzelne Gesichtsmerkmal anpasst, wenn im Laufe der Entwicklung der Kopf immer größer wird. Ähnlich wie man einzelne Teile anpassen muß, wenn man sie in ein stetig expandierendes, dreidimensionales und sich in der Form veränderndes Puzzle einsetzen will.

Kinder haben beispielsweise ein flaches, fast nicht wahrnehmbares Kinn, ähnlich wie man es von den Neandertalern kennt. Dieser knochige Vorsprung am Unterkiefer wird erst sichtbar, wenn Kinder wachsen und sich damit Kopf und Gesicht vergrößern.

"Unsere Studie legt nahe, dass das vorspringende Kinn kein funktionales Merkmal ist," sagt Holton," sondern wahrscheinlich mehr mit einer räumlichen Dynamik während unserer Entwicklung zu tun hat."


Diese Newsmeldung wurde mit Material ScienceDaily erstellt


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