Die Milch-Revolution
Forschungsprojekte mit Mainzer Beteiligung zeigen Ausbreitung der Landwirtschaft und Entstehung der Laktase-Persistenz in der Jungsteinzeit
„Die Milch-Revolution“ (The milk revolution) überschreibt das renommierte Wissenschaftsmagazin Nature einen Beitrag über die Forschungsarbeiten des EU-Projekts LeCHE, das in mehrjähriger, außerordentlich erfolgreicher Arbeit die Ausbreitung der Milchwirtschaft in Europa und die Entwicklung der Milchverträglichkeit aufgedeckt hat. Mit dem Übergang von Jäger- und Sammlerkulturen zu sesshaften Bauern in der Jungsteinzeit kam auch die Nutzung von Milchtieren auf und verbreitete sich vom Nahen Osten über ganz Europa.
Publikation:
Andrew Curry
The milk revolution
Nature
DOI: 10.1038/500020a
Die Verarbeitung von Milch zu Käse und Joghurt trug wesentlich zur Entwicklung der Milchwirtschaft bei, da so der Lactosegehalt der Frischmilch auf verträgliche Maße reduziert werden konnte und den Menschen damit wertvolle Nahrungsmittel zur Verfügung standen. Lactose, also der Milchzucker in frischer Milch, konnte bis vor 8.000 Jahren ansonsten nur im Kindesalter verdaut werden, weil sich die körpereigene Produktion des Enzyms Lactase anschließend verliert. Kurz bevor die ersten Bauern Europa besiedelten, kam es zu einer genetischen Mutation, die zur dauerhaften Ausschüttung von Lactase führte, sodass seit dieser Zeit immer mehr Erwachsene in Mittel- und Nordeuropa Milch trinken und verdauen können.
„Diese Milch-Revolution in zwei Schritten könnte der entscheidende Faktor gewesen sein, dass Bauern und Tierhüter aus dem Süden über Europa hinwegfegen und die Jäger- und Sammlerkulturen ersetzen konnten, die zuvor Tausende von Jahren dort gelebt hatten“, heißt es in dem Nature-Bericht über die LeCHE-Forschungen. Das EU-Ausbildungsnetzwerk mit 12 Doktoranden und ihren Betreuern aus unterschiedlichen Disziplinen – Anthropologen, Archäologen, Chemiker und Genetiker – hat seit 2009 die Rolle von Milch, Käse und Joghurt bei der frühen Besiedlung Europas untersucht und zahlreiche hochrangige Publikationen dazu veröffentlicht.
Von Seiten der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) war an dem EU-Projekt der Anthropologe Univ.-Prof. Dr. Joachim Burger sowohl bei der Gründung als auch bei den Forschungsarbeiten maßgeblich beteiligt. „Um die Bedeutung einzuschätzen, muss man bedenken, dass ein großer Teil aller heutigen Mittel- und Nordeuropäer eine nur kleine Gruppe von neolithischen Ackerbauern als Vorfahren hat, die zufällig in der Lage waren, auch nach dem Abstillen Frischmilch zu verdauen“, so der Mainzer Anthropologe. Sein Team hat die Laktase-Persistenz, also die Fähigkeit, Milchzucker abzubauen, in Skeletten des Neolithikums untersucht.
„Zu den prominentesten Ergebnissen der LeCHE-Gruppe gehört der Nachweis von Milchfetten in zahlreichen jungsteinzeitlichen Keramikresten und auch die Modellierungen zur Verbreitung der positiven Selektion von Laktase-Persistenz“, resümiert Burger. Bis vor 5.000 Jahren lag die Laktase-Persistenz in der Bevölkerung bei nahezu null, auch in Gebieten, in denen sie heute über 60 Prozent beträgt. Starke positive Selektion und immer wieder auftretende Migrationswellen machen die Forscher für diesen evolutionär ungewöhnlich rapiden Anstieg verantwortlich.
Mit dem Projekt BEAN (Bridging the European and Anatolian Neolithic) hat Burger nun ein weiteres EU-Projekt initiiert, das – dieses Mal ohne den Schwerpunkt „Milch“ – den Ursprüngen der ersten sesshaften Europäer im Balkan und dem Westen Anatoliens nachforscht. Adam Powell, Mathematiker und Populationsgenetiker aus London, hat hierfür das Team der Mainzer Anthropologen mit seinen Fähigkeiten als Modellierer und Statistiker verstärkt.
Um die reale Welt der frühen Bauern jenseits von Computersimulationen und Laboren besser zu verstehen, haben die BEAN-Forscher kürzlich im Rahmen einer Exkursion zehn Tage lang die archäologischen Fundplätze im Westen Anatoliens besucht. „Es wurde uns sehr deutlich, dass der Westen der heutigen Türkei ebenso wie der Balkan die beiden Schlüsselregionen für die europäische Bevölkerungsgeschichte der letzten 10.000 Jahre sind“, fasst Burger die Erfahrungen der Exkursion zusammen.
Diese Newsmeldung wurde mit Material des Informationsdienstes der Wissenschaft (idw) erstellt