Leviathan (Mythologie)

Die Vernichtung des Leviathan, Gravur von Gustave Doré (1865)

Leviathan (hebräisch לִויָתָן liwjatan „der sich Windende“) ist ein kosmisches Seeungeheuer aus der jüdischen Mythologie. Seine Beschreibung enthält Züge eines Krokodils, eines Drachens, einer Schlange oder eines Wals. Der Leviathan soll am Ende der Welt von Gott besiegt werden. Die Figur wurde später in das Christentum als Dämon übernommen. Sie verschlingt die Sünder beim jüngsten Gericht. Eine ähnliche Vorstellung findet sich in der Gnosis. Dort umfasst der Leviathan die erschaffene Welt und trennt sie vom Pleroma, verschlingt die Seelen jener, die die materielle Welt nicht verlassen können. In der arabischen Literatur taucht der Leviathan als Bahamut auf, der die Welt auf seinem Rücken trägt.

Vorbiblische Einflüsse

Grundlage der Vorstellung vom Leviathan sind alte babylonische und kanaanitische Mythen. Älteste Erwähnung ist die drachengestaltige mesopotamische Salzwassergöttin Tiamat, die vom menschenerschaffenden Gott Marduk (mit dem Beinamen Bel) besiegt werden musste, um den Göttern eine Wohnstätte zu schaffen.

Deutlicher wird das Bild beim kanaanitischen Götterpaar Ba’al und Anath, die nach den Tontafeln von Ugarit das siebenköpfige Seeungeheuer Lotan besiegt haben, das mit dem Meeresgott Yam aus der ugaritischen Mythologie gleichgesetzt wird. Auffällig ist auch das gleichartige Bild des Sturmgottes Baal in den Mythen von Ugarit und in verschiedenen Psalmen der Bibel und im Buch Hiob.

Biblisch-talmudische Tradition

Herkunft

Nach Ps 104,26 EU hat Gott Leviathan geformt, um mit ihm „zu spielen“ (Einheitsübersetzung). Nach dem Kapitel Avoda Zara des babylonischen Talmuds pflegt Gott dies in den letzten drei Tagesstunden zu tun, nachdem er die Tora studiert, über die Welt gerichtet und die Welt genährt hat. Damit wird theologisch die Macht und Souveränität des biblischen Gottes veranschaulicht, für den das angsteinflößende Wesen der altorientalischen Mythologie ein machtloses Spielzeug ist.

Nach anderen Bibelübersetzungen spielt nicht Gott mit dem Leviathan, sondern dieser im Meer bzw. mit den Schiffen.

Jüdische Bibel

Leviathan kommt als Fabeltier, als kosmisches Drachentier, im Tanach (Jüdische Bibel, das Alte Testament der Christen) bei Hiob und im Buch der Psalmen vor. Der Leviathan trägt laut Beschreibung vor allem Züge eines Krokodils. Daneben treten aber auch Züge eines Drachen, einer Schlange und eines Wals auf. Dementsprechend wird er in manchen Bibelübersetzungen aus dem Hebräischen auch nur mit dem Namen eines dieser Tiere übersetzt. Mitunter wird er lediglich als Allegorie auf die vernichtende Kraft des Meeres aufgefasst und damit als Gegenstück zum Landtier Behemoth und dem Vogel Ziz, der im Gegensatz zu Behemoth und Leviathan nicht biblischen Ursprungs ist.

Eine detaillierte Beschreibung des als bösartig geschilderten Ungeheuers findet sich im Buch Hiob 40,25 – 41,26 EU, wo seine Macht und Stärke als Sinnbild für die Fruchtlosigkeit von Hiobs Aufbegehren gegen sein Schicksal dient.

„Kannst du den Leviathan ziehen mit dem Haken und seine Zunge mit einer Schnur fassen? […] Wenn du deine Hand an ihn legst, so gedenke, daß es ein Streit ist, den du nicht ausführen wirst. […] Niemand ist so kühn, daß er ihn reizen darf; […] Wer kann ihm sein Kleid aufdecken? und wer darf es wagen, ihm zwischen die Zähne zu greifen? […] Seine stolzen Schuppen sind wie feste Schilde, fest und eng ineinander. […] Aus seinem Munde fahren Fackeln, und feurige Funken schießen heraus. […] Die Gliedmaßen seines Fleisches hängen aneinander und halten hart an ihm, daß er nicht zerfallen kann. Sein Herz ist so hart wie ein Stein […] Wenn er sich erhebt, so entsetzen sich die Starken […] Wenn man zu ihm will mit dem Schwert, so regt er sich nicht […] Er macht, daß der tiefe See siedet wie ein Topf […] Auf Erden ist seinesgleichen niemand; er ist gemacht, ohne Furcht zu sein. Er verachtet alles, was hoch ist“

Luther-Übersetzung der Bibel von 1534

Vernichtung durch Gott

Da jegliches menschliche Mühen vor einem derartigen Ungeheuer zuschanden werden muss (Hi 3,8 EU), bleibt es Gott selbst vorbehalten, am Ende der Zeit den Leviathan zu besiegen. Nach Ps 74,14 EU wird er „ihm den Kopf zermalmen“, nach Jes 27,1 EU „mit seinem harten, großen, starken Schwert […] töten“, nach anderer Übersetzung auch erwürgen. Nach dem Traktat Moed Katan im Babylonischen Talmud schließlich wird der Leviathan aus dem Meer geangelt wie ein gewöhnlicher Fisch.

Die Ungeheuer Leviathan, Behemoth und Ziz, Bibelillustration (Ulm 1238)

Nach einer üblicherweise zum Schawuot vorgetragenen Hymne namens Akdamut bzw. dem Talmud-Traktat Bava Bathra kommt es nach der Schlacht von Harmagedon am Ende der Zeiten zu einem Kampf zwischen den Ungeheuern Leviathan und Behemoth, bei dem dieser seinen Widersacher mit seinen Hörnern aufzuspießen sucht, während Leviathan nach dem Landungeheuer mit seinen Flossen schlägt.

Schließlich wird der Herr beide mit seinem mächtigen Schwert erschlagen und das Fleisch der beiden Ungeheuer gemeinsam mit dem des Vogels Ziz den Rechtschaffenen zur Speise geben. Aus ihrer Haut indes wird er ihnen Zelte und Baldachine machen. Dementsprechend enthält das Sukkot-Gebet nicht nur den bekannten frommen Wunsch, man möge sich „nächstes Jahr in Jerusalem“ treffen, sondern auch, dass man in einer mit der Haut des Leviathans bespannten Laubhütte zusammenkommen möge.

Apokryphen

Aus diesen biblischen Traditionen schöpfen die Apokryphen das Motiv des Leviathans als weibliches Fabelwesen, das gemeinsam mit seinem männlichen Gegenstück Behemoth von Gott zur Züchtigung der Menschen gesandt wird (1. Hen 59,7 ff.). Während letzterer die Wüste beherrscht, ruht Leviathan am Grund des Meeres. Am Ende werden beider Opfer von Gottes Gnade errettet (1. Hen 60,7).

In der Apokalypse des Abraham betrachtet Abraham in einer Vision die Welt und sieht sie auf dem Leviathan liegend. Mit seiner Vernichtung gehe dann auch die Welt zu Ende.[1]

Christliches Mittelalter

In christlicher Zeit und Kultur wird Leviathan mit dem Teufel in Verbindung gebracht, aber auch als Allegorie für Chaos und Unordnung, für Gottferne und Sündhaftigkeit der Menschen aufgefasst. Für Thomas von Aquin und den Jesuiten Peter Binsfeld repräsentiert er als Dämon des Neides eine der sieben Todsünden. In anglosächsischer Kunst (um 800 und später) wurde der Leviathan als Höllenschlund dargestellt; ein tierisches Monster, das der Satan am jüngsten Gericht mit den Verdammten füttert.[2]

Gnosis und ähnliche Glaubensvorstellungen

Origenes schrieb über eine gnostische Sekte, die er, aufgrund der zugeschriebenen Verehrung der biblischen Schlange, als Ophiten bezeichnet. Dem Leviathan kommt die Rolle der Weltenseele zu, umfasst dieser die gesamte materielle Welt und trennt sie von dem göttlichen Reich. Nach dem Tode würde die Seele durch die sieben himmlischen Sphären der Archonen reisen. Gelingt es der Seele nicht, wird sie von einem Archonen in Drachengestalt verschlungen und in Form eines Tieres in die Welt zurückgebracht – eine Darstellung, die dem zuvor genannten Leviathan gleicht. Ob die Ophiten den Leviathan mit der Schlange im Garten von Eden identifiziert haben ist unklar. Da der Leviathan und die physische Welt negativ konnotiert sind, ist es unwahrscheinlich. Eine weitere Möglichkeit wäre, dass die Schlange durchaus böse anzusehen war, aber einen guten Ratschlag gegeben hat. Demnach wäre es möglich, dass der Leviathan, aufgrund seiner Identifizierung mit der Weltenseele, nur fälschlicherweise als Göttlich interpretiert wurde.

Im Mandäismus wird der Leviathan auch Ur genannt.[3]

Im Manichäismus, einer von den Vorstellungen der Gnosis beeinflussten Religion, wird der Leviathan von einem der Söhne des gefallenen Engels Samyaza, einem der biblischen Riesen der Vorzeit getötet. Der Akt wird allerdings nicht glorifiziert, sondern zeigt die größten erreichbaren Siege im Leben, als vergänglich und reflektiert die manichäische Kritik an königlicher Macht und rät zur Askese.

Neuzeit und Gegenwart

Behemoth and Leviathan von William Blake (zwischen 1757 und 1827)

Leviathan als Metapher für Allmacht

Das mythologische Ungeheuer hat Thomas Hobbes zum Titel seiner berühmten staatsphilosophischen Schrift Leviathan (1651) angeregt, in der die von Hobbes postulierte Allmacht des Staates mit der Unbezwingbarkeit des biblischen Ungeheuers verglichen wird. In neuerer Zeit wird auch den Finanzmärkten oder der Natur (Vulkanausbrüche, Erdbeben, Tsunami) eine derartige Rolle zugeschrieben.

In der Literatur

Auch wurde der Stoff vielfach in literarischen Werken aufgegriffen und verarbeitet. Recht detailgetreu an die biblisch-talmudische Überlieferung lehnt sich die Beschreibung des Leviathans in Heinrich Heines Gedicht Disputation aus seinem Zyklus Romanzero an. „Rabbi Juda“ versucht seinem Gegner, dem Franziskaner „Frater José“, die Vorzüge des Judentums nicht zuletzt anhand von „unseres Herrgotts Lieblingsfisch“ zu veranschaulichen. „In weißer Knoblauchbrühe […] gesotten“ werde sein Fleisch „den frommen Auserwählten“ beim Gastmahl am Ende der Zeiten „delikater als Schildkröten“ munden.

Der Roman Moby Dick von Herman Melville setzt Leviathan mit dem Wal gleich. Freier verarbeitet wurde das Leviathan-Motiv etwa in den Romanen von Joseph Roth, Paul Auster oder Julien Green.

Im Oratorium Die Schöpfung von Joseph Haydn (Text: Gottfried van Swieten) wird der Leviathan als Beispiel für die Tiere des Wassers genannt: „Vom tiefsten Meeresgrund – wälzet sich Leviathan – auf schäumender Well’ empor“.

In seinem Libretto für Darius Milhauds Oper Christophe Colomb (1930) erwähnt Paul Claudel den Leviathan und seinen Gegenspieler Behemoth als Urgewalten der Natur während einer stürmischen Überfahrt über den Atlantik.

In seinem Essay Der Waldgang aus dem Jahre 1951 vergleicht Ernst Jünger die moderne, bürokratisierte und automatisierte Welt mit einem hochtechnisierten Kreuzfahrtschiff, das sich für seine Passagiere auch zum Leviathan entwickeln könne. Damit spielt er auf die Tendenz moderner Massengesellschaften zum Totalitarismus und auf seine Folgen an.

Im Roman Not Forgetting the Whale von John Ironmonger[4] dient ein gestrandeter Wal den Einwohnern zweier Ortschaften als Festspeise in höchster Not. Der Roman nimmt mehrfach Bezug auf den Leviathan und zitiert das Buch Hiob.

Im Film

Der experimentelle Dokumentarfilm Leviathan von Lucien Castaing-Taylor und Véréna Paravel vom Harvard Sensory Ethnography Lab aus dem Jahr 2012 beschäftigt sich mit der industriellen Fischerei und zeigt die Vorgänge auf einem amerikanischen Fischerboot.

Das russische Spielfilmdrama Leviathan von 2014 spielt in seinem Titel auf die Allmacht der russischen Obrigkeit, bestehend aus Staat, Verwaltung und Kirche an, die im Film kritisch beleuchtet wird.

Der US-amerikanische Horrorfilm Leviathan von Regisseur George Pan Cosmatos aus dem Jahr 1989 spielt auf einem gesunkenen Frachter, der den Namen Leviathan trägt.

In der britischen Horrorfilmreihe Hellraiser gilt Leviathan als Herrscher einer labyrinthartig aufgebauten Hölle und wird im zweiten Teil der Reihe von dessen Dienerin Julia (Clare Higgins) als „Gott des Fleisches, des Hungers und der Begierde“ bezeichnet.

In der Science-Fiction-Fernsehserie Farscape ist ein Leviathan namens Moya ein lebendes, biomechanisches Raumschiff, in dessen innerem Raum die Besatzung lebt.

In der Fantasy-Serie Supernatural spielen die Leviathane eine wichtige Rolle im Kampf zwischen Gut und Böse. Darin sind sie als Gottes erste Bestien beschrieben, die er noch vor den Menschen und Engeln erschuf. Wegen der Leviathane hat Gott das Fegefeuer erschaffen.

Auch in George R. R. Martins Epos Das Lied von Eis und Feuer wird er als größter Schrecken des „zitternden Meeres“ betitelt.

Trivia

Der Leviathan findet in Computerspielen wie EVE Online, StarCraft II, Borderlands, Final Fantasy, Mass Effect 3, Aura Kingdom, World of Warcraft[5][6] und Subnautica, in Fernsehserien wie Supernatural und Yu-Gi-Oh! sowohl in protagonistischer als auch antagonistischer Form Verwendung.

Im Sammelkartenspiel Magic: The Gathering stellen Leviathane einen eigenen Kreaturentypen mit zumeist hohen Angriffs- und Widerstandswerten dar. Auf den Illustrationen werden sie – angelehnt an den biblischen Vorlagen – häufig als Mischwesen mit Anteilen aus Fischen, Drachen oder Schlangen dargestellt.

In dem Videospiel The Binding of Isaac ist "Leviathan" eine mögliche Transformation.

Am 6. Mai 2012 eröffnete im Freizeitpark Canada’s Wonderland eine 93 Meter hohe Achterbahn mit dem Namen Leviathan, die das mythologische Seeungeheuer zum Thema hat.

Das Pokémon Kyogre aus der Pokémon-Videospielreihe beruht auf dem Leviathan.

In Polen ist die Supermarktkette Lewiatan danach benannt.

In der Vertigo-Comicserie The Unwritten ist der Leviathan eine zentrale Kraft.

Bei Warhammer 40.000 gibt es eine Schwarmflotte der Tyraniden namens Leviathan.

Der erste Roman der Reihe The Expanse von James S. A. Corey trägt den Titel Leviathan erwacht. Der Leviathan steht hier für eine neue außerirdische Macht, die am Ende des Romans aktiviert wird.

Die deutsche Folk-Band Mr. Hurley & die Pulveraffen aus Osnabrück, veröffentlichte im August 2019 ihr fünftes Studioalbum, welches den Namen Leviathan trägt und einen titelgebenden Track, zu dem es auch ein Musikvideo gibt, enthält.

Die Firma Lego hat im Jahr 2018 in der Reihe IDEAS ein Flaschenschiff mit dem Namen „Leviathan“ herausgebracht (Setnummer 21313). Das Modell wurde entworfen von Jake Sadovich.

Die dänische Rock-Band Volbeat veröffentlichte im August 2019 ihr siebtes Album mit dem Titel Rewind, Replay, Rebound, welches einen Song mit dem Titel Leviathan enthält. Im Song wird der Leviathan als alter Freund dargestellt, welcher gerufen wird, um die Welt von allem Bösen zu befreien.[7]

Literatur

  • Christoph Uehlinger: Leviathan. In: Karel van der Toorn, Bob Becking, Pieter W. van der Horst (Hrsg.): Dictionary of Deities and Demons in the Bible. DDD. 2. extensively revised edition. Leiden u. a. 1999, ISBN 90-04-11119-0, S. 511–515.
  • Harald Gebhardt und Mario Ludwig: Von Drachen, Yetis und Vampiren. Fabeltieren auf der Spur. BLV-Verlag, München 2005, ISBN 3-405-16679-9.
  • Thomas Hobbes: Leviathan. Reclam, Stuttgart 2010, ISBN 3-15-008348-6, (zahlr. Auflagen).
  • Joseph Roth: Der Leviathan. 4. Auflage, Kiepenheuer und Witsch, Köln 1999, ISBN 3-462-02082-X.
  • Arno Schmidt: Enthymesis. Leviathan oder Die beste der Welten. Haffmans, Zürich 1992, ISBN 3-251-80060-4.
  • Tuomas Rasimus Paradise Reconsidered in Gnostic Mythmaking: Rethinking Sethianism in Light of the Ophite Evidence BRILL 2009 ISBN 9789047426707
  • Michel Tardieu Manichaeism University of Illinois Press, 2008 ISBN 9780252032783

Weblinks

Commons: Leviathan – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Andrei A. Orlov: Dark Mirrors Azazael and Satanael in Early Jewish Demonology. Hrsg.: State University of New York. Suny Press, New York 2011, ISBN 978-1-4384-3951-8, S. 21.
  2. Link, Luther (1995). The Devil: A Mask Without a Face. London: Reaktion Books. S. 75–6. ISBN 0-948462-67-1 (Englisch)
  3. Hans Jonas: The Gnostic Religion. 3. Auflage. Boston 2001, S. 117.
  4. Leviathan. Abgerufen am 30. September 2020.
  5. Leviathan der Azsh'ari. Abgerufen am 30. September 2020.
  6. Songfacts: Leviathan by Volbeat - Songfacts. Abgerufen am 10. Januar 2020 (Lua-Fehler in Modul:Multilingual, Zeile 149: attempt to index field 'data' (a nil value)).

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