Zellkern-Erbgut aus Höhlensedimenten gibt Einblicke in unsere Vergangenheit

Presseldung vom 15.04.2021

Forschern ist es erstmalig gelungen, chromosomale DNA von Neandertalern aus Höhlensedimenten zu isolieren und zu analysieren. Dabei konnten sie feststellen, dass dort vor etwa 100.000 Jahren eine Population durch eine andere ersetzt wurde. Die Untersuchung chromosomaler DNA aus Sedimenten kann Forschern auch an anderen Fundstätten neue Einblicke in die menschliche Vergangenheit geben, ohne dass sie auf den Fund fossiler Knochen und Zähne angewiesen sind.


Die Untersuchung „alter DNA“ ist ein wichtiges Element in der Erforschung unserer evolutionären Vergangenheit, einschließlich der Beziehungen zu unseren ausgestorbenen Verwandten, den Denisovanern und Neandertalern. Bisherige Studien basierten auf Analysen der DNA aus fossilen Knochen und Zähnen, in denen das Erbgut vor Umwelteinflüssen geschützt überdauert. Doch solche Skelettüberreste sind äußerst selten, sodass ein Großteil unserer menschlichen Geschichte für genetische Untersuchungen bisher unzugänglich war.

Um diese Lücke zu schließen, haben Forscher am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie nun neue Methoden zur Anreicherung und Analyse menschlicher Zellkern-DNA aus Sedimenten entwickelt, die in fast jeder Ausgrabungsstätte reichlich vorkommen. Bisher konnte aus archäologischen Sedimenten nur mitochondriale DNA gewonnen werden, die für die Untersuchung von Beziehungen zwischen verschiedenen Populationen aber nur von begrenztem Wert ist. Die Analyse chromosomaler DNA aus Sedimenten bietet Wissenschaftlern jetzt neue Möglichkeiten, die Vergangenheit des Menschen zu untersuchen.

Publikation:


Benjamin Vernot et al.
Unearthing Neandertal population history using nuclear and mitochondrial DNA from cave sediments
Science, 15 April 2021

DOI: 10.1126/science.abf1667

Sedimente können Erbgut von anderen Säugetieren enthalten

Bei der Entnahme alter menschlicher DNA aus Sedimenten mussten die Forscher darauf achten, dass die Ablagerungen auch eine beträchtliche Menge an Säugetier-DNA, zum Beispiel von Bären oder Hyänen, enthalten können. „Im menschlichen Genom gibt es viele Bereiche, die beispielsweise der DNA eines Bären ähneln“, sagt Erstautor Benjamin Vernot. Die Forscher suchten daher gezielt nach solchen Regionen im Genom, bei denen sie sicher sein konnten, ausschließlich menschliche DNA vorzufinden. Darüber hinaus entwickelten sie Methoden, um den verbliebenen Anteil nicht-menschlicher DNA in einer Probe zu messen. „Wir wollten sicher sein, dass wir nicht versehentlich eine unbekannte Hyänenart untersuchen“, so Vernot.


Die Fundstätte Galería de las Estatuas in Nordspanien.

Die Wissenschaftler wendeten dann diese Methoden auf die Analyse von mehr als 150 Sedimentproben aus drei Höhlen an. In zwei dieser Höhlen – der Chagyrskaya- und der Denisova-Höhle im Altai-Gebirge in Südsibirien – wurde bereits im Rahmen früherer Studien Erbgut aus Knochen analysiert. So konnten die Autoren die aus Sedimenten gewonnene DNA mit der aus Knochen gewonnenen DNA vergleichen. „Die Methoden, die wir entwickelt haben, sind sehr neu. Wir wollten sie daher zunächst an Fundstätten testen, von denen wir gute Vergleichsdaten hatten“, sagt Matthias Meyer, der Leiter der Studie. Und tatsächlich war das Erbgut aus den Sedimenten den Genomen von Knochen am ähnlichsten, die an denselben Orten gefunden worden waren – was die Effektivität der neuen Methoden bestätigte.

Chagyrskaya-Höhle im Altai-Gebirge in Südsibirien.

Chromosomale DNA aus Höhlensedimenten in Nordspanien

Ausgrabungen an der dritten Fundstätte, Galería de las Estatuas in Nordspanien, unter der Leitung von Juan Luis Arsuaga von der Universidad Complutense de Madrid, hatten Steinwerkzeuge aus einer Zeit vor circa 70.000 bis 115.000 Jahren ans Licht gebracht. Die Forscher fanden jedoch nur einen einzigen Neandertaler-Zehenknochen, und dieser war für die DNA-Probenentnahme zu klein. „Es gab für uns keine Möglichkeit, die genetische Beschaffenheit der Neandertaler, die in Estatuas lebten, zu untersuchen“, sagt Asier Gómez-Olivencia, ein Wissenschaftler des Estatuas-Teams von der Universidad del País Vasco/Euskal Herriko Unibertsitatea. Die aus den Sedimenten extrahierte Zellkern-DNA zeigte, dass nicht eine, sondern zwei Neandertaler-Populationen in der Höhle gelebt hatten, wobei die ursprüngliche Gruppe vor etwa 100.000 Jahren durch eine spätere Gruppe ersetzt worden war.

Als die Forscher die Sediment-DNA mit der DNA von Skelettproben verglichen, bemerkten sie einen auffälligen Trend – es schien zwei „Ausbreitungswellen“ von Neandertalern gegeben zu haben, wobei die ältere Estatuas-Population von der ersten, und die jüngere von der zweiten stammte. „Wir fragen uns, ob diese Ereignisse, sowie der Populationsaustausch in Estatuas, mit Klimaveränderungen oder mit Veränderungen in der Morphologie der Neandertaler zusammenhängen könnten, die etwa zu dieser Zeit stattgefunden haben – aber um das mit Sicherheit sagen zu können, benötigen wir mehr Daten“, sagt Juan Luis Arsuaga.

Neue Einblicke in die Vergangenheit des Menschen

Selbst für Fundstätten, wo im Rahmen früherer Studien bereits DNA aus Knochen untersucht wurde, ist es noch möglich, aus Höhlenablagerungen neue Erkenntnisse zu gewinnen. Früheren archäologischen Studien zufolge gehörten die Neandertaler aus der Chagyrskaya-Höhle einer einzigen Population an, die an diesem Ort nur für kurze Zeit lebte. Da jedoch nur ein einziges Genom aus einem in der Höhle gefundenen Knochen untersucht worden war, konnten die Forscher zunächst nicht klären, ob dieses repräsentativ für die gesamte Population ist, die im Umkreis der Chagyrskaya-Höhle lebte. Anhand der aus Sedimenten gewonnenen chromosomalen DNA konnten die Forscher diese Hypothese nun bestätigen. „Wir haben Sedimentproben aus der gesamten Stratigraphie entnommen, und sie alle sahen der DNA aus dem Knochen sehr ähnlich, obwohl die Sediment-DNA von mehreren Individuen stammte“, sagt Kseniya Kolobova vom Institut für Archäologie und Ethnographie der Russischen Akademie der Wissenschaften, die leitende Archäologin der Chagyrskaya-Höhle.


Diese Newsmeldung wurde mit Material des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie via Informationsdienst Wissenschaft erstellt


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