Wie unser Gehirn die Veränderung von Sprache beeinflusst
Unsere Sprache verändert sich ständig: Forschenden haben herausgefunden, dass jene Lautmuster, die häufig in unserer Sprache vorkommen, über Jahrhunderte hinweg noch häufiger wurden. Der Grund dafür ist, dass häufige und daher prototypische Lautmuster von unserem Gehirn leichter wahrgenommen und erlernt, und folglich noch häufiger benutzt werden.
Sprachen aus früheren Zeiten und unsere heutigen Sprachen unterscheiden sich grundlegend, und zwar nicht nur in ihrem Vokabular und ihrer Grammatik, sondern auch in der Aussprache. Theresa Matzinger und Nikolaus Ritt vom Institut für Anglistik der Universität Wien untersuchten, welche Faktoren für diesen Wandel von Sprachlauten verantwortlich sind und was uns derartige Lautwandelphänomene über die allgemeinen Fähigkeiten unseres Gehirns sagen können.
Publikation:
Theresa Matzinger und Nikolaus Ritt
Phonotactically probable word shapes represent attractors in the cultural evolution of sound patterns
Cognitive Linguistics (2022)
Wir bevorzugen in unserer Sprache jene Lautmuster, die häufig vorkommen
Zum Beispiel wurde das englische Wort make („machen“) im frühen Mittelalter als „ma-ke“, also mit zwei Silben und einem kurzen „a“ ausgesprochen, während es im späten Mittelalter als „maak“, also mit einer Silbe und einem langen „a“ ausgesprochen wurde. Der Verlust der zweiten Silbe und die gleichzeitige Verlängerung des Vokals wie es beim Wort make passierte, kam bei vielen englischen Wörtern des Mittelalters vor. Doch wieso kam es dazu, dass Vokale von Wörtern, die ihre zweite Silbe verloren und einsilbig wurden, länger ausgesprochen wurden?
Um dies herauszufinden, analysierten Matzinger und Ritt mehr als 40.000 Wörter aus englischen Texten des frühen Mittelalters. Die Forschenden bestimmten die Länge der Vokale dieser Wörter, unter anderem, indem sie Wörterbücher zu Hilfe nahmen oder angrenzende Laute berücksichtigten. Danach zählten sie, wie häufig Wörter mit langen und kurzen Vokalen waren. Dabei fanden sie heraus, dass die Mehrheit der einsilbigen Wörter des Mittelalters lange Vokale hatten und nur eine Minderheit kurze Vokale.
„Wenn Sprecherinnen und Sprecher einsilbige Wörter mit einem kurzen Vokal aussprachen, klangen diese Wörter ‚eigenartig‘ und wurden von Zuhörern nicht so gut oder nicht so schnell erkannt oder erlernt, weil sie nicht in das gewohnte Lautmuster passten. Wörter, die zu den häufig vorkommenden Lautmustern mit langem Vokal passten, konnten hingegen leichter vom Gehirn verarbeitet werden“, erklärt Matzinger, die derzeit als Gastforscherin an der Universität Toruń (Polen) arbeitet.
Man kann sich Sprachwandel wie ein Stille-Post-Spiel vorstellen.
Mag. Theresa Matzinger, Uni Wien
Sprachwandel funktioniert wie ein Stille-Post-Spiel
Diese leichtere Wahrnehmbarkeit und Erlernbarkeit von einsilbigen Wörtern mit langen Vokalen führten über Jahrhunderte hinweg dazu, dass immer mehr einsilbige Wörter lange Vokale bekamen. „Man kann sich Sprachwandel wie ein Stille-Post-Spiel vorstellen“, sagt Matzinger. „Eine Generation von Sprechern spricht eine bestimmte Sprachvariante. Deren Kinder nehmen Muster, die in der Sprache der Elterngeneration häufig vorkommen, besser wahr, lernen sie daher schneller und benutzen sie daher noch häufiger. Diese zweite Generation gibt an ihre eigenen Kinder daher eine leicht veränderte Sprache weiter.“
Wir erkennen diesen langsamen Sprachwandel auch daran, dass unsere Großeltern, wir selbst und unsere Kinder leicht unterschiedlich sprechen. Wenn dieser Prozess jedoch über Jahrhunderte hinweg abläuft, entstehen Sprachvarianten, die so unterschiedlich sind, dass man sie kaum mehr verstehen kann. „In unserer Studie konnten wir zeigen, dass die allgemeine Fähigkeit unseres Gehirns, häufige Dinge bevorzugt wahrzunehmen und zu erlernen, ein wichtiger Faktor ist, der bestimmt, wie sich Sprachen verändern“, fasst Matzinger zusammen. Ein nächster Schritt in der Forschung ist, diese Häufigkeiten von sprachlichen Mustern auch bei anderen Sprachwandelphänomenen oder in anderen Sprachen als Englisch zu untersuchen.
Diese Newsmeldung wurde mit Material der Universität Wien via Informationsdienst Wissenschaft erstellt