Stammbäume aus Europas Jungsteinzeit


Die Bestattungen eines jungsteinzeitlichen Gräberfeldes, Gurgy ‘les Noisats’ im heutigen Frankreich, offenbarten unerwartet große Familienstammbäume. Mit deren Hilfe ist es einem deutsch-französischen Forschungsteam gelungen, erste Einblicke in die Sozialstruktur frühbäuerlicher Gemeinschaften vor 6.700 Jahren zu gewinnen. Die Forschenden fanden Hinweise auf eine enge verwandtschaftliche Linie, die durch Monogamie, „Außenheirat“ mit Partnergemeinschaften und generell stabile Zeiten geprägt war.


Die frühbäuerliche Lebensweise der Jungsteinzeit entstand vor mehr als 10.000 Jahren im Nahen Osten, von wo aus sie sich über ganz Europa ausbreitete und maßgeblich die Geschichte der Menschheit prägte. Mit der Nahrungsproduktion und -lagerung entstanden allmählich Strukturen, die auf Gebietsanspruch und Besitzstand basierten, und zur Herausbildung sozialer Hierarchien beitrugen. Nach der ersten Besiedlungsphase hatten sich schnell komplexe Gesellschaftsstrukturen etabliert, die sich auch in den Bestattungssitten widerspiegelten.

Publikation:


Rivollat, M., Rohrlach, A.B., Ringbauer, H. et al.
Extensive pedigrees reveal the social organization of a Neolithic community
Nature (2023)

DOI: 10.1038/s41586-023-06350-8

So ist das Pariser Becken im heutigen Frankreich bekannt für monumentale Steinbauten, die als Bestattungsstätten für die sozialen Eliten galten. In diesem Zusammenhang ist auch das Gräberfeld von Gurgy ‘Les Noisats’ von besonderem Interesse, eine der größten jungsteinzeitlichen Nekropolen ohne Steinbauten, und es stellte sich die Frage, wer dort bestattet wurde.


Rekonstruktion eines Familienstammbaums von Gurgy: Die Porträts sind künstlerische Interpretationen, welche von genetischen und anthropologischen Daten zu Alter, Geschlecht und äußerer Erscheinung der Individuen inspiriert sind.

Mit Hilfe neuer Methoden zur Gewinnung und Analyse von alter DNA und der Beprobung fast aller der 128 Bestattungen des Fundplatzes konnte ein Forschungsteam des PACEA-Labors in Bordeaux, Frankreich, und des Leipziger Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie nun zwei unerwartet große Stammbäume rekonstruieren, die direkte Einblicke in die Lebenswelt dieser prähistorischen Gemeinschaft liefern.

Stammbäume von beeindruckender Größe

In ihrer Studie stellen die Forschenden die genomweiten Daten von 94 Individuen aus Gurgy vor, die sie in Verbindung mit Strontium-Isotopendaten und dem erweiterten archäologischen und anthropologischen Kontext wie etwa Sterbealter, biologisches Geschlecht, Lage im Gräberfeld ausgewertet haben. Der größere der beiden Stammbäume umfasst 64 Individuen über sieben Generationen, der kleinere zwölf Individuen über fünf Generationen.

„Von Beginn der Ausgrabung an fanden wir Hinweise darauf, dass der Bestattungsplatz sehr bewusst belegt wurde. Es gibt kaum überlappende Gräber, was bedeutet, dass die Nekropole von engen Verwandten verwaltet wurde, die wohl gut wussten, wer wo bestattet war“, berichtet der Archäologe und Anthropologe Stéphane Rottier von der Universität Bordeaux, der den Fundort zwischen 2004 and 2007 ausgegraben und dokumentiert hat. Und tatsächlich konnte das auswertende Team eine statistisch signifikante Korrelation zwischen räumlicher Distanz und biologischem Verwandtschaftsgrad der Individuen nachweisen.

Nachgestellte Szene jungsteinzeitlichen Lebens.

Einblicke in die Sozialstruktur der Gemeinschaft von Gurgy

Die Stammbäume zeigen deutliche Hinweise auf Patrilinearität, da die Generationen fast ausschließlich über die biologischen Väter verknüpft sind und lediglich zwei Y-chromosomale Linien, die rein väterlich vererbt werden, nachgewiesen sind. Gleichzeitig findet sich aber eine hohe Diversität mitochondrialer DNA, welche mütterlicherseits vererbt wird und in Gurgy in jeder neuen Generation aufgefrischt wurde.

Zusammen mit den Ergebnissen der Strontium-Isotopen-Analysen, denen zufolge diese Mütter vermehrt nicht-lokale Signaturen tragen, deutet dies auf Praktiken der Virilokalität und weiblicher Exogamie („Außenheirat“) hin. Die Söhne blieben in der Gemeinschaft und hatten Partnerinnen von außerhalb. In der Tat fehlen in den Stammbäumen die erwachsenen Töchter, was bedeutet, dass diese gleichsam die Gemeinschaft verlassen hatten, um anderswo neue Bünde einzugehen, sehr wahrscheinlich im gegenseitigen Austausch. Interessanterweise waren einige der eingeheirateten Frauen entfernt miteinander verwandt, was darauf hindeutet, dass Gurgy mit einigen wenigen benachbarten Gemeinschaften in solchen Austauschbündnissen stand.

Maïté Rivollat, Erstautorin der Studie, ist vom Anblick der Stammbäume beeindruckt: “Wir sehen eine große Anzahl an Vollgeschwistern, die allesamt das Reproduktionsalter erreicht hatten. Wenn wir dann noch eine hypothetische Anzahl an Individuen für ein ausgleichendes Geschlechterverhältnis und eine gewisse Kindersterblichkeit dazurechnen, kommen wir auf ziemlich große Familien und eine hohe Fortpflanzungsfähigkeit oder Fruchtbarkeitsrate. Dies deutet auf einen insgesamt sehr guten Ernährungs- und Gesundheitszustand der Gruppe hin, was bemerkenswert für vorgeschichtliche Zeiten ist.”

Ein weiteres Phänomen ist das Fehlen von Halbgeschwistern, was einen direkten Hinweis auf monogame Beziehungen darstellt. Zum einen kann dies bedeuten, dass es seltener zum frühzeitigen Ableben eines Partners kam, oder dass außereheliche Nachkommen aufgrund sozialer Sanktionen nicht auf diesem Friedhof bestattet wurden.

Die Ahnenlinie

Im Hinblick auf das vornehmlich virilokale System sticht ein Mann hervor, der als „Gründungsvater“ des großen Stammbaums ausgemacht werden konnte. Auch seine Bestattung ist außergewöhnlich, da seine Gebeine (tatsächlich nur ein Bündel der Langknochen) als Sekundärbestattung im Grab einer Frau niedergelegt wurden, von der leider keine genetischen Daten gewonnen werden konnten. Die Gebeine des Gründervaters wurden demnach vom ursprünglichen Siedlungs- oder Bestattungsort der Gruppe mitgebracht. “Er muss als Ahne also von großer Bedeutung für die Gemeinschaft gewesen sein, um von seinen Verwandten nach Gurgy umgebettet zu werden“, erklärt Marie-France Deguilloux von der Universität Bordeaux, Co-Hauptautorin der Studie.

Obwohl der Hauptstammbaum ganze sieben Generationen umfasst, deutet das demografische Profil darauf hin, dass die Örtlichkeit von Beginn an mit mehreren Generationen belegt wurde. Das Fehlen von Kinderbestattungen in den ersten und von Erwachsenen in den letzten Generationen lässt vermuten, dass die Gruppe frühzeitig verstorbene Kinder an einem vorigen Ort bestattet hatte und sich das gleiche Prinzip wiederholte, als die letzte Elterngeneration schon zum nächsten Ort weitergezogen war. Damit zeigt sich eine deutlich kürzere Belegdauer des Friedhofes, also eher drei bis vier als sieben Generationen, was wiederum gut zur geschätzten Dauer von Behausungen zu dieser Zeit und der Erschöpfung lokaler Ressourcen wie Böden oder Brennholz passt.

In Kombination mit Kontextdaten anderer Disziplinen beispielsweise zu Mobilität, Ernährung und Sterbealter bieten die sensationell großen Stammbäume ein enormes Interpretationspotenzial, und stellen damit gleichsam einen gewaltigen Schritt in Richtung Verständnis der Sozialstrukturen vorgeschichtlicher Gesellschaften dar. “Die großen methodischen Fortschritte der letzten Jahre haben es erst möglich gemacht, Studien von dieser Größenordnung durchzuführen. Damit wird ein langgehegter Traum eines jeden Archäologen und Anthropologen wahr und die Tür zu weiteren Erkenntnissen zur Menschheitsgeschichte weit aufgestoßen“, fasst Wolfgang Haak vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie und Hauptautor der Studie zusammen.


Diese Newsmeldung wurde mit Material des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie via Informationsdienst Wissenschaft erstellt


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