Neandertaler und moderne Menschen hatten ähnliche Speisezettel
Internationale Studie findet mehr gemeinsame Nahrungsvorlieben als angenommen ‒ Rätselhafte Spuren von Kannibalismus.
Neandertaler und der frühe moderne Mensch ernährten sich vermutlich sehr ähnlich: Zu diesem Schluss kommt eine internationale Studie und widerspricht damit der Annahme, die Neandertaler seien ausgestorben, weil ihr Ernährungsspektrum eingeschränkt war. Die Ergebnisse zeigten aber auch, dass moderne Menschen dennoch einen Vorteil hatten, weil sie vermutlich mobiler und besser vernetzt waren, berichtet das Team um Dr. Christoph Wißing von der Universität Tübingen.
Publikation:
Christoph Wißing, Hélène Rougier, Chris Baumann, Alexander Comeyne, Isabelle Crevecoeur, Dorothée G. Drucker, Sabine Gaudzinski-Windheuser, Mietje Germonpré, Asier Gómez-Olivencia, Johannes Krause, Tim Matthies, Yuichi I. Naito, Cosimo Posth, Patrick Semal, Martin Street, Hervé Bocherens
Stable isotopes reveal patterns of diet and mobility in the last Neandertals and first modern humans in Europe.
Scientific Reports
DOI: 10.1038/s41598-019-41033-3
Gemeinsam mit Kollegen vom Tübinger Senckenberg Centre for Human Evolution and Palaeoenvironment (HEP) sowie aus Belgien, Frankreich, Spanien, Japan und den USA hatte er Isotopenwerte aus fossilen Knochen der letzten Neandertaler, früher moderner Menschen sowie von Tieren verglichen. Die Analyse der Kohlenstoff-, Stickstoff- und Schwefelisotope im Knochenkollagen ließ neue Rückschlüsse auf Ernährung und Wanderungsbewegungen der untersuchten Menschen sowie die damaligen Ökosysteme zu. Die Ergebnisse wurden im Fachjournal Scientific Reports veröffentlicht.
Während der letzten Eiszeit, im Spätpleistozän, teilten sich in Europa mindesten zwei Menschentypen den Lebensraum, der Neandertaler und der moderne Mensch Homo Sapiens. Die Neandertaler lebten über einen Zeitraum von mehreren tausend Jahren zeitgleich mit den ersten modernen Menschen, bevor sie vor etwa 40.000 Jahren ausstarben. Als mögliche Gründe für ihr Verschwinden nahm man bislang unter anderem an, dass sie weniger flexibel in der Wahl ihrer Nahrung waren und vermutlich weniger mobil als moderne Menschen, sich also in einem kleineren Radius bewegten.
In der aktuellen Studie verglichen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler stabile Isotopenwerte von menschlichen und tierischen Knochenresten aus den Höhlen von Troisième caverne of Goyet, Spy und Scladina in Belgien sowie die Fundstätte Lommersum in Nordrhein-Westfalen.
Isotopen sind Varianten eines Atoms mit unterschiedlichem Gewicht, ihre Anreicherung im Knochenkollagen reflektiert die Ernährung, gemäß des Ausspruchs „Man ist was man isst“. Das Verhältnis von Stickstoffisotopen zeigt beispielsweise, ob sich jemand pflanzlich oder mit Fleisch ernährte. Außerdem lässt sich durch die sogenannte „Isotopensignatur“ die regionale Herkunft eines Nahrungsmittels nachvollziehen.
Goyet ist die einzige Grabungsstelle Europas, an der sowohl Skelettreste von letzten Neandertalern als auch von sehr frühen modernen Menschen gefunden wurden. „Wir konnten hier die Ökologie beider Menschenformen detailliert rekonstruieren und vergleichen“, sagt Christoph Wißing. Zudem untersuchte er fossile Reste der jüngsten datierten Neandertaler aus der naheliegenden Grabungsstelle Spy; die deutsche Grabungsstelle Lommersum lieferte Hinweise zum damaligen Ökosystem.
Die Ergebnisse zeigen, dass sich das Ernährungsspektrum von Neandertalern und modernen Menschen weniger unterschied als gedacht: Beide jagten bevorzugt große Pflanzenfresser wie Mammuts und Nashörner, aber auch Rentiere. Besonders das Mammut war als Beutetier sehr wichtig. „Es war zu dieser Zeit scheinbar ‚Ernährungstrend‘, sich auf die riesigen, an Kälte angepassten Großsäuger zu spezialisieren“, sagt Wißing. „Andere Fundstellen in Europa deuten auf ähnliche Ergebnisse hin.“
Zudem weisen die Analysen auf ein relativ intaktes Ökosystem während der Zeit der letzten Neandertaler hin. Massive Veränderungen, sogenannter ökologischer Stress, können erst festgestellt werden, als der moderne Mensch die europäische Bühne betritt. Von da an lasse sich erhöhter Druck besonders auf Mammutpopulationen nachweisen. „Diese Herdentiere mit relativ langsamen Reproduktionszyklen wurden vermehrt gejagt, wohl auch von den in größerer Zahl auftretenden, modernen Menschen. Der Einfluss des modernen Menschen auf das Ökosystem war bereits mit dem frühen Auftreten in Europa intensiver als der des Neandertalers.“
Auch stellte das Team prägnante Unterschiede im Mobilitätsverhalten der Menschengruppen fest, die an den verschiedenen Fundstellen gelebt hatten: So jagten die Neandertaler von Spy als „Einheimische“ ihrer Beutetiere im Umkreis. Die Goyet-Neandertaler hatten nur wenig Beutetiere aus dem direkten Umfeld auf dem Speiseplan und waren offensichtlich „Ortsfremde“. An ihren Skeletten finden sich zudem Belege für intensiven Kannibalismus, die noch Rätsel aufgeben. Ein Großteil der menschlichen Knochen ist mit Schnittspuren und Markern versehen, die auf eine Entfleischung deuten; einige wurden als Werkzeuge genutzt. Im Gegensatz dazu sind die Knochen der Spy-Neandertaler unfragmentiert erhalten.
„Die Opfer des Kannibalismus kamen nicht aus dem lokalen Ökosystem“, erklärt Wißing. „Es ist unklar, wer sich hier kannibalistisch ernährte, aus welcher Gegend die Neandertaler von Goyet ursprünglich kamen und ob sie in Goyet starben oder nur ihre Knochen dorthin transportiert wurden.“
Eine These bestätigte sich jedoch in der aktuellen Studie: Scheinbar bewegten sich Neandertaler aus beiden Orten eher homogen in Gruppen, während die modernen Menschen individuell mobiler waren. Die Wissenschaftler vermuten, dass sie eventuell auch über die Region hinweg vernetzt waren. „Dies führte zu einer intensiveren Ressourcennutzung und den genannten Eingriffen in Ökosysteme, aber auch zu einem effizienteren Austausch von Ideen und Menschen“, sagt Wißing. „Vielleicht verschaffte dieses andere Konzept der Landschaftsnutzung bzw. der Verbund durch große soziale und kulturelle Netzwerke dem modernen Menschen den entscheidenden Vorteil.“
Diese Newsmeldung wurde mit Material des Informationsdienstes der Wissenschaft (idw) erstellt