Das genetische Erbe unserer ausgestorbenen Ahnen
Genfluss einer ausgestorbenen Gorilla-Population zu rezenten Berggorillas entdeckt.
Eine aktuell in der Fachzeitschrift Nature Ecology and Evolution erschienene, internationale Forschungsarbeit unter Leitung der Universitäten Wien (Österreich) und dem Institute of Evolutionary Biology (IBE) in Barcelona (Spanien) liefert einen verbesserten Einblick in die Evolutionsgeschichte der Gorillas. Martin Kuhlwilm, Wissenschafter am Department für Evolutionäre Anthropologie der Universität Wien, Harvinder Pawar, PhD Studentin, und Tomas Marques-Bonet, ICREA-Forschungsprofessor am IBE, einem Forschungszentrum des spanischen Nationalen Forschungsrats (CSIC) und der Universität Pompeu Fabra (UPF) analysierten das Genom von Gorillas mit Hilfe moderner statistischer Methoden unter Einbeziehung neuronaler Netzwerke. So wurde entdeckt, dass es auch bei dieser mit dem Menschen eng verwandten Affenart einen Genfluss von bereits ausgestorbenen Linien in die heute lebenden Gorillas gegeben hat – ähnlich wie der moderne Mensch und Bonobos von ausgestorbenen Gruppen Gene erhalten hat, die noch heute in unserem Erbgut zu finden sind.
Publikation:
Pawar, H., Rymbekova, A., Cuadros-Espinoza, S. et al.
Ghost admixture in eastern gorillas
Nat Ecol Evol (2023)
DOI: 10.1038/s41559-023-02145-2
Menschen und Gorillas teilen eine spannende Gemeinsamkeit: Bei beiden Arten kam es im Lauf der Evolution durch Verpaarung mit Individuen heute bereits ausgestorbener Gruppen der jeweiligen Art zur Vermischung der DNA – und damit zur Introgression ("Einwanderung") von Genen von einer Gruppe in die andere. So hat der moderne Mensch im Laufe der Evolutionsgeschichte Gene mit den Neandertalern und auch mit den Denisova-Menschen ausgetauscht, die sich noch heute im Erbgut vieler Menschen nachweisen lassen. Entsprechende Untersuchungen an Menschenaffen, besonders an Gorillas, sind bisher allerdings eher dünn gesät, weil es von unseren nächsten lebenden Verwandten – im Gegensatz zum Homo sapiens – nur wenige fossile Überreste gibt, aus denen "alte" DNA zur Analyse gewonnen werden könnte. Daher sind die Genome heute lebender Individuen die einzige Möglichkeit, ihre Entwicklungsgeschichte zu rekonstruieren, was im Anbetracht der Tatsache, dass Gorillas in freier Wildbahn vom Aussterben bedroht sind, von ganz besonderer Bedeutung ist.
Genfluss von "Geisterpopulation" liefert neue Erkenntnisse zur Evolutionsgeschichte
Gorillas setzen sich aus 2 Arten (Westliche und Östliche Gorillas) zusammen, die ihrerseits aus je 2 Unterarten bestehen: Zu den Westlichen Gorillas zählen die Westlichen Flachlandgorillas und die Cross-River-Gorillas, zu den Östlichen Gorillas gehören die Östlichen Flachlandgorillas und die nahe verwandten Berggorillas. In der aktuellen Forschungsarbeit des Teams um Martin Kuhlwilm und Tomas Marques-Bonet, in Zusammenarbeit mit Chris Tyler-Smith und Yali Xue vom Sanger Institut, wurde das Genom von Individuen aller 4 Unterarten analysiert, darunter auch neu sequenzierte Berggorilla-Genome aus dem Bwindi-Nationalpark in Uganda, einem der beiden einzigen Orte, an dem die wenigen noch lebenden Berggorillas zu finden sind. Smarte und innovative statistische Methoden inklusive der Einbindung neuronaler Netze förderten ein überraschendes Resultat zutage: Vor 40.000 Jahren fand ein Genaustausch zwischen einer bereits ausgestorbenen Gorilla - "Geisterpopulation" und dem gemeinsamen Vorfahren der Östlichen Flachlandgorillas und der Berggorillas statt. Wissenschafter Martin Kuhlwilm erklärt: "Bis zu 3% des Genoms der heutigen Östlichen Gorillas tragen Überreste von Genen dieser "Geisterpopulation", die sich vor mehr als 3 Millionen Jahren von den gemeinsamen Vorfahren aller Gorillas getrennt haben." Und führt weiter aus: "Im Gegensatz dazu konnten wir bei den Westlichen Gorillas keine dieser DNA-Abschnitte identifizieren."
Genfluss von "Geisterpopulation" kann Auswirkungen auf Genfunktionen haben
Dass der genetische Eintrag von bereits ausgestorbenen Ahnen nicht nur von evolutionsgeschichtlichem Interesse ist, sondern auch funktionelle Auswirkungen auf die rezenten Arten haben kann, konnte das internationale Team anhand eines Beispiels eindrucksvoll zeigen: So stellten die Forschenden fest, dass ein Gen, das für einen Bittergeschmacksstoffrezeptor kodiert, von der "Geisterpopulation" in die heutigen Östlichen Flachlandgorillas und in die Berggorillas eingebracht wurde – und nachher einer positiven Selektion unterlegen haben könnte. Insofern "praktisch" für die heutigen Tiere, weil diese Art von Geschmacksrezeptoren vermutlich dabei helfen, giftige (und bitter schmeckende) Nahrung zu vermeiden. Ein weiteres interessantes Ergebnis aus den Analysedaten ist, dass die Östlichen Gorillas in ihrem X-Chromosom eine sehr geringe Menge an DNA aus der Geisterpopulation tragen. Somit scheint dieses einer negativen Selektion zu unterliegen – was so auch beim Menschen und anderen Arten zu beobachten ist. Ein möglicher Grund dafür ist, dass dieses Chromosom in männlichen Individuen nur in einer Kopie vorhanden ist, im Gegensatz zu den anderen Chromosomen, und daher schädliche Mutationen einen stärkeren Effekt haben.
Dazu Martin Kuhlwilm: "Die Geschichte der Vermischung mit nun ausgestorbenen Gruppen in verschiedenen Arten wie Menschen, Bonobos und nun auch Gorillas ist ein wichtiger Aspekt der Evolution, zu dem wir neue Erkenntnisse gewonnen haben." "Evolutionäre Genetik ist wichtig", ergänzt Harvinder Pawar, Erstautorin der Studie, "damit wir mehr darüber lernen, was uns Menschen von anderen Menschenaffen unterscheidet."
Diese Newsmeldung wurde mit Material der Universität Wien via Informationsdienst Wissenschaft erstellt