Alte DNA beleuchtet Ursprünge der Awaren
Die Awaren beherrschten fast 250 Jahre lang weite Teile Mittel- und Osteuropas. Als belegt gilt, dass sie im sechsten Jahrhundert unserer Zeit aus Zentralasien kamen, doch ihre Herkunft blieb antiken Autoren und modernen Historikern gleichermaßen ein Rätsel. Nun hat ein Forschungsteam bestehend aus Genetikern, Archäologen und Historikern die ersten alten Genome aus den bedeutendsten Stätten der Awaren-Elite aus dem heutigen Ungarn untersucht. Die Studie verortet den genetischen Ursprung der Awaren-Elite in einer weit entfernten Region Ost-Zentralasiens und liefert direkte genetische Belege für eine der größten und schnellsten Fernmigrationen der frühen Menschheitsgeschichte.
In den 560er Jahren errichteten die Awaren im Karpatenbecken ein Reich, welches mehr als 200 Jahre lang bestand – doch trotz zahlreicher wissenschaftlicher Debatten blieb unklar, woher sie ursprünglich stammten. Man kennt sie vor allem aus historischen Quellen ihrer Feinde, der Byzantiner, die sich nach dem plötzlichen Auftauchen der furchterregenden Awaren-Krieger in Europa gewundert hatten, woher diese ursprünglich kamen. Stammten sie aus dem Rouran-Khaganat in der mongolischen Steppe, welches damals gerade von den Türken zerstört worden war, oder sollte man den damaligen Türken glauben, die ein solch prestigeträchtiges Erbe entschieden bestritten?
Publikation:
Guido Alberto Gnecchi-Ruscone et al.
Ancient genomes reveal origin and rapid trans-Eurasian migration of 7th Century Avar elites
Cell, 2022
DOI: 10.1016/j.cell.2022.03.007
Historiker haben sich gefragt, ob es sich um eine gut organisierte Migrantengruppe oder um Geflüchtete handelte. Die archäologische Forschung fand zahlreiche Parallelen in Form von Funden aus dem Karpatenbecken und eurasischen Nomadenartefakten (Waffen, Gefäße, Pferdegeschirr) – beispielsweise ein halbmondförmiges Pektorale aus Gold, das als Machtsymbol diente. Bekannt ist ebenfalls, dass die Awaren den Steigbügel in Europa eingeführt haben. Bislang war es Forschenden jedoch nicht gelungen, ihre Herkunft aus den weiten eurasischen Steppen nachweisen.
Ein multidisziplinäres Team, bestehend aus Forschenden des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie, der ELTE-Universität und des Instituts für Archäogenomik in Budapest, der Harvard Medical School in Boston, der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und des Institute for Advanced Study in Princeton, analysierte in dieser Studie das Erbgut von 66 Individuen aus dem Karpatenbecken. Darunter befanden sich die acht reichsten jemals entdeckten Awaren-Gräber, die mit Goldgegenständen überfüllt waren, sowie weitere Personen, die vor und während der Awaren-Zeit in derselben Region gelebt hatten. „In unserer Studie sind wir einem 1400 Jahre alten Rätsel auf der Spur: Wer waren die awarischen Eliten, die geheimnisvollen Begründer eines Reiches, welches Konstantinopel fast vernichtete und mehr als 200 Jahre lang das Gebiet des heutigen Ungarn, Rumänien, der Slowakei, Österreich, Kroatien und Serbien beherrschte?“, sagt Johannes Krause, Hauptautor der Studie.
Die schnellste Fernmigration der Menschheitsgeschichte
Die Awaren selbst hinterließen keine schriftlichen Aufzeichnungen über ihre Geschichte, doch erste genomweite Daten liefern nun zuverlässige Hinweise auf ihre Herkunft. „Wenn wir die archäogenetischen Ergebnisse in den historischen Kontext bringen, können wir den Zeitpunkt der Awaren-Wanderung eingrenzen. Sie legten in wenigen Jahren mehr als 5000 Kilometer zurück – von der Mongolei zum Kaukasus – und ließen sich weitere zehn Jahre später im heutigen Ungarn nieder. Es handelt sich hierbei um die schnellste bisher rekonstruierte Fernmigration der Menschheitsgeschichte“, erklärt Co-Autor Choongwon Jeong.
„Neben ihrer eindeutigen genetischen Affinität zu Nordostasien und ihrer durch den Fall des Rouran-Khaganats naheliegenden Herkunft, deuten weitere 20 bis 30 Prozent des Erbguts der Awaren-Elite des 7. Jahrhunderts auf eine zusätzliche nicht-lokale Abstammung hin“, ergänzt Erstautor Guido Gnecchi-Ruscone. „Dieser Anteil steht möglicherweise in Verbindung mit dem Nordkaukasus und der westasiatischen Steppe und könnte auf ein weiteres Migrationsereignis nach deren Ankunft im 6. Jahrhundert hindeuten.“
Die ostasiatische Abstammung konnte in Individuen mehrerer Fundstätten innerhalb des Kernsiedlungsgebiets zwischen Donau und Theiß im heutigen Zentralungarn nachgewiesen werden. Außerhalb ihres Hauptsiedlungsgebiets fanden die Forschenden jedoch eine hohe Variabilität zwischen verschiedenen Individuen hinsichtlich ihrer Abstammung – insbesondere in der südungarischen Fundstätte Kölked. Dies deutet darauf hin, dass die eingewanderte Awaren-Elite mithilfe einer heterogenen lokalen Elite über eine genetisch sehr diverse Bevölkerung herrschte.
Diese spannenden Ergebnisse zeigen das große Potential einer Zusammenarbeit zwischen Genetikern, Archäologen, Historikern und Anthropologen bei der Erforschung der Völkerwanderung im ersten Jahrtausend unserer Zeit.
HistoGenes
Dieses Forschungsprojekt ist Teil von HistoGenes, einem vom European Research Council (ERC) finanzierten Projekt, das den Zeitraum von 400 bis 900 unserer Zeit im Karpatenbecken aus einer multidisziplinären Perspektive heraus untersucht.
Diese Newsmeldung wurde mit Material des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie via Informationsdienst Wissenschaft erstellt