Gründungsmythos

Ein Gründungsmythos ist eine Ursprungserzählung, die teilweise auf Fiktionen aufbaut und als verbindlich wahrgenommen wird.[1] Diese Art von Mythos kann sowohl religiöse als auch politische Elemente enthalten. Der Ausdruck entstammt der politischen Soziologie.

Religiöse Formen sind beispielsweise Ideen von göttlicher Offenbarung,[2] Auserwähltheit und Mission[3] sowie Vorsehung und Schicksal.[4] Solche Gründungsmythen beruhen teilweise auf Glaubens­haltungen, ohne die ihr Wirkungspotential verblasst.[5]

Als politische Mythen sind Gründungsmythen konstitutiv für ein allgemeines Selbstverständnis in modernen Nationalstaaten.[6] Die Funktionen von Gründungsmythen liegen in der Schaffung konsensfähiger, sinnstiftender Werte, der Erzeugung von kollektiven Identitäts­vorstellungen sowie der Legitimation von Macht und Privilegien.[7] Auch bei stark wert­orientierten politischen Parteien sowie bei länger zurückliegenden oder „legendären“ Unternehmensgründungen können sie eine Rolle spielen.

Beispiele

Gründungsmythen nahmen eine hervorragende Stelle in der griechischen Mythologie ein. „Antike griechische Rituale verbanden sich mit der Bevölkerung und somit mit jeweils spezifischen Orten“ beobachtete Walter Burkert, die einmal errichteten Heiligtümer und Altäre blieben für alle Zeiten heilige Orte. Daher stellen die griechischen Gründungsmythen eine spezielle Beziehung zwischen der Gottheit und der lokalen Bevölkerung her. Diese leitete ihre Wurzeln von einem Heros ab und sah ihre überkommenen Rechtsansprüche durch den Gründungsmythos legitimiert. Die griechischen Gründungsmythen verkörperten oftmals die Rechtfertigung für das Weiterbestehen eines älteren Gesellschafts- und Wertesystems.

Der römische Gründungsmythos lässt die Gründer Roms von einer Wölfin (Symbol der wilden Kraft) gesäugt sein und Romulus seine Stadt sofort mit aller Kraft verteidigen. Ein weiteres Beispiel stellt Vergils Aeneis dar, worin der aus dem brennenden Troja fliehende Äneas nach vielen Irrfahrten nach Latium gelangt, wo er zum Stammvater der Römer wird.

Der Gründungsmythos der Mark Brandenburg (1157) spiegelt sich in der Schildhornsage.

Der Gründungsmythos der USA, dass der Einzelne oder die Gruppe gegen alle Widrigkeiten ihr Glück machen und Recht und Ordnung schaffen könne (American Dream), wird in vielen Wild-West-Filmen ausgeführt (auf die Pilgerväter zurückgehend). Der US-amerikanische Historiker David McCullough analysiert 2005 in seinem Buch 1776: America and Britain at War („1776: Nordamerika und Briten im Krieg“) eingehend die Entwicklung des US-amerikanischen Gründungsmythos.[8]

Siehe auch

Literatur

  • Matteo Galli, Heinz-Peter Preusser (Hrsg.): Deutsche Gründungsmythen (= Jahrbuch Literatur und Politik. Band 2). Winter, Heidelberg 2008, ISBN 978-3-8253-5416-9.
  • Almut-Barbara Renger, Roland Alexander Ißler (Hrsg.): Europa – Stier und Sternenkranz. Von der Union mit Zeus zum Staatenverbund (= Gründungsmythen Europas in Literatur, Musik und Kunst. Band 1). V&R Unipress, Göttingen 2009, ISBN 978-3-89971-566-8.

Weblinks

Wiktionary: Gründungsmythos – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen
  • Ulrich Wickert: Menschen brauchen Mythen. In: Welt Online. 4. Juli 2009, abgerufen am 1. Oktober 2018 (Interview mit Herfried Münkler zu seinem Buch Die Deutschen und ihre Mythen).

Einzelnachweise

  1. Paul Geyer: Romanistik und Europäische Gründungsmythen. In: Claudia Jünke, Michael Schwarze (Hrsg.): Unausweichlichkeit des Mythos. Mythopoiesis in der europäischen Romania nach 1945 (= Romania viva 3). Meidenbauer, München 2006, ISBN 3-89975-049-7, S. 171–181, hier S. 175.
  2. Hans-Peter Müller, Steffen Sigmund (Hrsg.): Zeitgenössische amerikanische Soziologie. Leske + Budrich, Opladen 2000, ISBN 3-8100-1672-1.
  3. Karl-Josef Kuschel: Kinder Abrahams. Zur Möglichkeit und Notwendigkeit eines Miteinander von Juden, Christen und Muslimen. In: Thomas Bauer, Thorsten Gerald Schneiders (Hrsg.): „Kinder Abrahams“. Religiöser Austausch im lebendigen Kontext. Festschrift zur Eröffnung des Centrums für Religiöse Studien. Lit, Münster 2005, ISBN 3-8258-8023-0, S. 33–55, hier S. 34.
  4. Detlef Junker: Der Fundamentalismus in den USA und die amerikanische Sendungsidee der Freiheit. In: Katarzyna Stokłosa, Andrea Strübind (Hrsg.): Glaube – Freiheit – Diktatur in Europa und den USA. Festschrift für Gerhard Besier zum 60. Geburtstag. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2007, ISBN 3-525-35089-9, S. 643–657; Markus Schürer: Die Dominikaner und das Problem der generaciones venturae. In: Gert Melville, Jörg Oberste (Hrsg.): Die Bettelorden im Aufbau. Beiträge zu Institutionalisierungsprozessen im mittelalterlichen Religiosentum. Lit, Münster u. a. 1999, ISBN 3-8258-4293-2, S. 169–214, hier S. 197 und 206
  5. Walter Euchner: Die Funktion der Verbildlichung in Politik und Wissenschaft. Politik und politisches Denken in den Imaginationen von Wissenschaft und Kunst. Lit, Berlin u. a. 2008, ISBN 978-3-8258-1228-7, S. 72
  6. Egon Flaig: Politisches Vergessen. In: Günter Butzer, Manuela Günter (Hrsg.): Kulturelles Vergessen. Medien – Rituale – Orte. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2004, ISBN 3-525-35580-7, S. 101–114, hier S. 104.
  7. Yves Bizeul: Theorien der politischen Mythen und Rituale. In: Yves Bizeul (Hrsg.): Politische Mythen und Rituale in Deutschland, Frankreich und Polen. Duncker & Humblot, Berlin 2000, ISBN 3-428-09918-4, S. 15–39, hier S. 21 ff.
  8. David McCullough: 1776: America and Britain at War. Neuauflage. Allen Lane, 2005, ISBN 9780713998634.

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