Bibliotheke des Apollodor

(Weitergeleitet von Pseudo-Apollodor)

Die so genannte Bibliotheke oder „Bibliothek Apollodors“ ist eine vermutlich aus dem 1. Jahrhundert n. Chr. stammende, in griechischer Sprache verfasste umfangreiche Zusammenstellung antiker Mythen. Sie stellt eine wertvolle Quelle zur griechischen Mythologie dar.

Entstehungszeit und Autor

Da im überlieferten Text Kastor von Rhodos als Verfasser einer Chronika erwähnt wird,[1] diese in 20 Fragmenten überlieferte Chronik bis ins Jahr 61/60 v. Chr. reicht und es weiter keinen Grund zu der Annahme gibt, dass die betreffende Stelle zu einem späteren Zeitpunkt eingefügt wurde, ist damit ein frühestmögliches Datum der Entstehung der Bibliotheke gegeben. Allgemein wird heute eine Entstehung im 1. oder 2. nachchristlichen Jahrhundert angenommen. Ein plausibles spätestmögliches Entstehungsdatum kann nicht angegeben werden, da die erste datierbare Zitierung sich in der Bibliotheca des Byzantiners Photios aus dem 9. Jahrhundert findet. Verweise auf die Bibliotheke in den Homerscholien sind nicht datierbar.

Die Bibliotheke wurde von Photios dem Grammatiker Apollodor von Athen zugeschrieben. Photios zitiert den Titel des Werkes als „Büchleinchen Apollodors, eines Grammatikers“.[2] Da Apollodor von Athen jedoch schon Ende des 2. Jahrhunderts v. Chr. wirkte, kommt er als Autor nicht in Frage.[3] Ob es sich bei der Bibliotheke um eine Pseudepigraphie handelt oder ob eine zufällige Namensgleichheit (der Name Apollodor war verbreitet) Ursache der Zuschreibung ist oder ob, wie von Diller[4] vermutet, die häufige Nennung des „echten“ Apollodors in ähnlichem Kontext wie die Bibliotheke in den Homerscholien zu einer Verwechslung führte, kann nicht geklärt werden.

Textüberlieferung

Der Text der Bibliotheke ist nicht vollständig erhalten. Ursprünglich aus vier Büchern bestehend, ist deren 1. und 2. Teil vollständig erhalten, der 3. Teil endet abrupt mit 3.16.2.1 (3.218 Dräger), der 4. Teil fehlte ursprünglich völlig. In der ältesten, wohl aus dem 14. Jahrhundert stammenden Handschrift R (Parisinus graecus 2722, Bibliothèque nationale, Paris) sind vom ursprünglichen Umfang von 29 Blättern 17 erhalten.

Durch einen glücklichen Zufall konnte der junge Wissenschaftler Richard Wagner 1885 in der Vatikanischen Bibliothek den Codex Vaticanus graecus 950 (Handschrift E) als eine Epitome (d. h. einen Auszug) der Bibliotheke identifizieren, von deren 73 Druckseiten 23 den verlorenen Teil bis zu dem von Photios berichteten Schluss des Werkes abdecken. 1891 wurde dieser Text von Wagner unter dem Titel Epitome Vaticana herausgegeben.[5]

1887 hatte der griechische Gelehrte Anastasios Papadopoulos-Kerameus bei der Neuordnung der Bibliothek des Klosters des Hl. Sabbas in Jerusalem den von ihm 1891 unter dem Titel Fragmenta Sabbaitica herausgegebenen Text entdeckt, der Teile des 3. und das Ende des 4. Teils der Bibliotheke enthielt (Handschrift S).[6]

Weitere Handschriften (die aber Abschriften von R darstellen) werden in der Bodleiana[7] in Oxford und in der Bayerischen Staatsbibliothek[8] in München aufbewahrt.

Im Druck veröffentlicht wurde die Bibliotheke erstmals von Aegius (Benedetto Aegio von Spoleto) in Rom 1555.

Inhalt

Die Bibliotheke gliedert sich grob in drei Hauptteile:

  • Entstehung der Götter (Theogonie, 1.1.1–1.6.3)
  • Entstehung der Menschen und Heldensagen (1.7.1–E2)
  • Ereignisse um Troia (E3–E7)

Innerhalb der Heldensagen gliedert sich der Inhalt im Wesentlichen genealogisch:

Einordnung und Quellenwert

Missachtung und Geringschätzung der Bibliotheke hat eine lange Tradition, beginnend bei Photios, der die Bibliotheke als „Büchleinchen“ ({{Modul:Vorlage:lang}} Modul:Multilingual:149: attempt to index field 'data' (a nil value)) bezeichnet, das nicht unbrauchbar sei für jene, die sich für dergleichen Altertümer interessieren. Sie reicht bis in die Gegenwart: Im Kleinen Pauly zieht Heinrich Dörrie das Resümee: „Die Kompilation … besitzt wenig Quellenwert.“[9]

Vor allem in der jüngeren Forschung wird die Bibliotheke dagegen hoch geschätzt. Paul Dräger etwa nennt sie „ein Kleinod von unschätzbarem Wert.“[10] Bei einer solch unterschiedlichen Betrachtung liegen wohl folgende Ursachen einer Abwertung der Bibliotheke zugrunde:

  1. Die literarische Bewertung. Im Gegensatz zur ausschmückenden Darstellung der griechischen Mythen etwa bei Homer, Hesiod oder den Tragikern der klassischen Zeit ist die Darstellung der Bibliotheke nüchtern und schmucklos. Auch häufige längere Aufzählungen, wie etwa die namentliche Nennung der 50 Hunde des Aktaion, heben den dichterischen Rang nicht.
  2. Die Entdeckung, dass nicht der Grammatiker Apollodor der Autor sein kann. Vor allem im 19. Jahrhundert war man geneigt, Pseudepigraphie und Fälschung in einen Topf zu werfen und alles, was irgendwie als nicht authentisch erschien, nur gering zu schätzen.[11]
  3. Die vermeintlichen Fehler und Auslassungen der Bibliotheke. Gegenüber den bei den klassischen Dichtern überlieferten Fassungen der griechischen Mythen weist die Fassung der Bibliotheke zahlreiche Abweichungen, Auslassungen, aber auch Ergänzungen auf. Dies wurde als Beleg dafür angesehen, dass die Bibliotheke eine schlampige, unzuverlässige Kompilation sei.

Eben dieser letzte Punkt begründete auf der anderen Seite die Hochschätzung der Bibliotheke als zentrale Quelle für die griechische Mythologie. Ein genaues Abgleichen der Unterschiede, Auslassungen und Ergänzungen macht es nämlich wahrscheinlich, dass, obwohl der Text wohl erst aus der frühen Kaiserzeit stammt, der Inhalt Material einer archaischen Tradition wiedergibt, die außer in wenigen Fragmenten sonst nirgendwo überliefert ist, dass also bestimmte Episoden der Odyssee oder der Argonautika des Apollonios von Rhodos in der Bibliotheke nicht deshalb fehlen oder etwas abweichend dargestellt werden, weil der Autor der Bibliotheke sich nicht oder nur schlecht erinnert hat, vielmehr erscheint es plausibel, dass die betreffenden Teile fehlen, weil sie eine dichterische Erfindung Homers bzw. des Apollonios darstellen und daher in den vom Autor der Bibliotheke verwendeten Quellen nicht erscheinen.

In diesen Zusammenhang gehört auch eine ansonsten nur schwer erklärbare Auslassung: Das Römische Imperium wird an keiner Stelle erwähnt, auch dort nicht, wo es sich anbieten würde, etwa in Zusammenhang mit Aeneas oder mit dem sagenhaften Zug des Herakles durch Italien. Wenn die Quelle(n) der Bibliotheke z. B. aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. datierten, so wäre die Auslassung nur natürlich, da das römische Weltreich damals eben noch nicht existierte.

Als eigentliche Quelle der Bibliotheke wird daher ein „mythographisches Handbuch“ angenommen, das sein Material aus den nur in Fragmenten erhaltenen Werken des Pherekydes von Athen und des Akusilaos von Argos bezog. Auch Hesiods Katalog der Frauen ({{Modul:Vorlage:lang}} Modul:Multilingual:149: attempt to index field 'data' (a nil value)) wurde als Quelle ausgemacht. Da dieses Material wiederum in einer vorhomerischen, mündlichen Tradition (epischer Kyklos) wurzelt, biete die Bibliotheke damit einen einzigartigen Blick auf eine archaische Schicht des griechischen Mythos.

Ausgaben

  • Apollodor: Bibliotheke. Götter- und Heldensagen. Griechisch und Deutsch. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Paul Dräger. Reihe Tusculum. Artemis & Winkler, Düsseldorf/Zürich 2005, ISBN 3-7608-1741-6.
  • Apollodoros: Götter und Helden der Griechen. Eingel., hrsg. und übers. von Kai Brodersen. Bibliothek der Antike. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2012, ISBN 978-3-534-25246-6
  • James George Frazer (Übers.): Apollodoros. The library. 2 Bde. Loeb Classical Library. London/New York 1921. (Frazer integrierte den überlieferten Text mit dem Material aus Handschriften E und S zu einem zusammenhängenden Text.)
  • Dorothea Vollbach (Übers.): Die griechische Sagenwelt. Apollodors mythologische Bibliothek. Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1988, ISBN 3-7350-0012-6 (Nachbearbeitung der Übersetzung von Christian Gottlob Moser)
  • Richard Wagner (Hrsg.): Apollodori Bibliotheka. In: Mythographi Graeci. Bibliotheca scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana. Bd. 1. Teubner, Leipzig 1926. Nachdruck 1965. (Heute noch maßgebliche Ausgabe des griechischen Textes.)

Einzelnachweise

  1. 2.1.3.1
  2. Photios, Bibliotheca, cod. 186, p. 142a–b
  3. Das wurde spätestens von Carl Robert 1873 festgestellt (Robert 1873, S. 4–48).
  4. Diller: Text History, S. 296–300
  5. Richard Wagner: Epitoma Vaticana ex Apollodori Bibliotheca. Leipzig 1891
  6. Anastasius Papadopoulos-Kerameus: Apollodori bibliothecae fragmenta Sabbaitica. In: Rheinisches Museum 46 (1891). S. 161–192.
  7. Oxoniensis Laudianus Graecus 55 (Handschrift O)
  8. Monacensis Graecus 182 (Handschrift M)
  9. Der Kleine Pauly – Lexikon der Antike. Stuttgart 1964. Bd. 1. Sp. 439.
  10. Paul Dräger: Bibliotheke. S. 891
  11. Auch das Bedauern über den Verlust sämtlicher authentischer Werke Apollodors mag einen (psychologischen) Beitrag geleistet haben. Dass Apollodors Peri theon verloren ist, wurde gewissermaßen der erhalten gebliebenen Bibliotheke zum Vorwurf gemacht.

Literatur

  • Marc Huys: 125 Years of Scholarship on Apollodoros the Mythographer: A Bibliographical Survey. In: L’antiquité classique 66 (1997). S. 319–351; aktualisiert in Marc Huys, Daniela Colomo. Bibliographical Survey on Apollodoros the Mythographer: a Supplement. In: L’antiquité classique 73 (2004). S. 219–237.
  • Aubrey Diller: Studies in Greek Manuscript Tradition. Amsterdam 1983. S. 199–216. Ursprünglich erschienen als: The Text History of the Bibliotheca of Pseudo-Apollodorus. In: Transactions of the American Philological Association Bd. 66 (1935). S. 296–313.
  • Carl Robert: De Apollodori Bibliotheca. Berlin 1873

Weblinks

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